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Frostbite

Frostbite

Titel: Frostbite
Autoren: David Wellington
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auf, aber nachdem sie
die Augen gesehen hatte, konnte sie sich nicht mehr davon losreißen. Diese
Augen – sie waren nicht gelb wie bei den anderen Wölfen, sondern zeigten
ein eiskaltes und berechnendes Grün. In diesen Augen flackerten Intelligenz und
noch etwas anderes. Eine schreckliche Wut. Es bereitete Chey keine Mühe, in
ihnen zu lesen, so wie sie sie in den Augen eines Menschen hätte lesen können.
Dieses Tier wollte sie nicht fressen. Es betrachtete sie nicht als Beute. Es
wollte sie bloß töten.
    Diese Augen.
    Wie Neonschilder flammten in Cheys Kopf Erinnerungen auf und
verlangten nach ihrer Aufmerksamkeit. Erinnerungen, die nie besonders tief
unter der Oberfläche gelauert hatten. Sie kannte
diese Augen. Sie hatte einen halben Kontinent durchquert, um sie zu
finden. Und jetzt würden sie sie umbringen.
    Das Ungeheuer verabscheute Chey so sehr, dass es sie in Stücke
reißen und die Überreste auf dem Waldboden verteilen würde. Es wollte ihr Blut
vergießen und ihren Schädel mit den riesigen Zähnen zu kleinen Splittern
zermalmen. Angesichts der Wucht dieses Blicks, dieses bösartigen Starrens
klammerte sich Chey noch fester an den Baum. Die Bestie erzeugte das Verlangen in ihr, sich irgendwo zu verkriechen, alles
zu tun, nur um diesem leidenschaftlichen Abscheu zu entkommen.
    Das Fell der Bestie sträubte sich, der Schwanz senkte sich. Die
Lefzen gaben die Zähne frei. Aus dem Rachen drang ein Laut, als würde eine
Kettensäge in Gang gesetzt. Und dann sprang sie.
    Mit den Hinterbeinen stieß sich das Ungeheuer vom Boden ab und warf
sich in die Höhe. Die Vorderpfoten schlugen nur eine Handbreit unter Cheys
baumelnden Füßen durch die Luft. Die Schnauze klaffte auf, um die Beine zu
erwischen und zu zermalmen. Am Scheitelpunkt des Sprungs war die Bestie nur
Zentimeter von Cheys Füßen entfernt. Knurrend fiel sie zurück auf den Boden,
krallte hechelnd nach der weichen Rinde und knurrte noch lauter, nachdem sie
ihr Verlangen nicht hatte stillen können. Chey blieb gerade genug Zeit, einen
besseren Halt auf dem Baum zu finden, bevor der Wolf erneut sprang.
    »Nein!«, flehte sie, aber die Bestie schnellte so flink in die Höhe,
als wäre die Schwerkraft umgekehrt worden, als hätte sich die Welt auf den Kopf
gestellt und das Tier fiele Chey nun entgegen. Mitten in der Luft schnappten
die Zähne zu. Chey wich zurück, versuchte verzweifelt zu entkommen, aber eine
Vorderpfote erwischte sie am Knöchel. Bösartige Krallen durchbohrten Haut und
Muskeln und kratzten über die Knochen. Ein Schmerz durchzuckte Chey, als blitze
ein rotes Warnlicht auf. Eine Sekunde lang nahm sie bloß das Blut wahr, das ihr
durch den Kopf schoss, sah nichts außer den Adern hinter ihren Lidern.
    Das Monster fiel zurück, seine Krallen lösten sich aus ihrem
Fleisch.
    Das nächste Mal würde es noch zielsicherer zupacken. Davon war Chey
überzeugt. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie in den nächsten paar Sekunden
sterben würde. Wenn sie nicht sofort etwas unternahm, würde sie das Opfer
dieser wütenden Kreatur.
    Sie schob sich am Baumstamm hinauf und sprang nach einem höheren
Ast. Sie verfehlte ihn. In ihrem Bein pulsierte der Schmerz, und sie keuchte
auf, aber ihr war klar, dass der Wolf sie erwischen würde, wenn sie nicht höher
hinaufkam. So einfach war das. Während sie
sich aufbäumte, griff sie nach einem Ast, der ihr Gewicht gerade noch
auszuhalten schien, und zog sich in die Höhe,
während sie plötzlich hyperventilierte und ihr Funken vor den Augen
tanzten.
    Die Bestie sprang ein drittes Mal
nach ihr, aber Chey war außer Reichweite. Sie wollte nicht nach unten
sehen, aber das war unmöglich.
    Das Ungeheuer ließ sich auf die Hinterbeine sinken und starrte sie
an. Sein Atem hechelte in dichten Wolken aus den Lungen. Es wollte ihr seinen
Willen aufzwingen, damit sie losließ und stürzte. Sie spürte seinen Wunsch.
Sein Verlangen.
    Dann geschah das Unglaubliche. Der Wolf wandte den Blick von ihr ab,
wenn auch nur für einen kurzen Moment. Er spähte an den Bäumen vorbei zu der
Stelle, wo der Mond dem Horizont entgegensank. Als er sich wieder seiner Beute
zuwandte, mischte sich große Verbitterung in seinen wilden Hass. Er starrte
Chey noch eine Weile böse an, dann fuhr er herum und verschwand so schnell und
lautlos, wie er gekommen war, im dunklen Wald.
    Das kann nur eine Finte sein, dachte Chey. Aber die Bestie war
verschwunden.
    Diese Augen!

4   Der
große Wolf kehrte nicht zurück.
    Chey wartete
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