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Frostbite

Frostbite

Titel: Frostbite
Autoren: David Wellington
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klemmte sich den Finger in der Autotür. Aber es packte
einen kein Fluss und schleifte einen über spitze Steine, bis er die Lust
verlor.
    Eine Weile saß sie einfach nur da, hielt die Knie fest umklammert
und atmete ein und aus.
    Schließlich gelang es ihr aufzustehen. Sie musste eine Entscheidung
treffen. Norden oder Süden. Süden bedeutete aufzugeben. Den Rückweg anzutreten
und dem Ziel, dessentwegen sie überhaupt gekommen war, den Rücken zu kehren.
    Sie kontrollierte den Kompass und wandte sich nach Norden.
    Nach einer Stunde Bewegung wich die Steifheit nach und nach. Ersetzt
wurde sie durch einen brennenden Schmerz, der jeden Schritt in den durchnässten
Stiefeln begleitete. Aber sie konnte ihn mit Grimassen vertreiben.
    Sie marschierte weiter an den
Bäumen vorbei, bis sie vor Erschöpfung zusammenzubrechen glaubte. Die
Sonne stand noch immer hoch über den grünen und gelben Ästen, aber sie war zu
keinem weiteren Schritt mehr fähig. Also setzte sie sich. Eine Weile zog sie in
Betracht, sich richtig auszuheulen, befand dann aber, dass ihr dazu die nötige
Kraft fehlte. Also wickelte sie einen ihrer Proteinriegel aus und aß ihn. Als
sie damit fertig war, stand sie wieder auf und ging weiter, weil ihr nichts
Besseres einfiel. Jedenfalls nichts, das ihr geholfen hätte.
    Im Wald verlor Zeit ihre Bedeutung, weil alles gleich aussah und
jeder Schritt dem vorherigen ähnelte. Aber irgendwann wurde es dunkel.
    Sie ging weiter.
    Bis sie etwas zu hören glaubte. Vielleicht einen Schritt auf einer
Schneekruste. Vielleicht atmete da auch jemand. Etwas Nichtmenschliches.
    Geh einfach weiter!, befahl sie sich. Es hat mehr Angst vor dir als
du vor …
    Sie konnte sich nicht überwinden, den Gedanken zu Ende zu führen,
ohne dabei laut lachen zu müssen. Was sie wirklich unter allen Umständen
vermeiden wollte.
    Sie gelangte zu einer Lücke im Astwerk über ihr, wo ein wenig
Mondlicht durchschimmerte. Es reichte aus, dass sie sich umsehen konnte. Der
Himmel war voller Farben – über ihrem Kopf brannte das Nordlicht. Aber sie
zwang sich, das Schauspiel nicht zu betrachten. Sie musste die Schatten nach
Spuren irgendwelcher Verfolger absuchen.
    Mit zusammengekniffenen Augen starrte sie so konzentriert in das
Zwielicht, dass sie beinahe gestolpert wäre und mit den Händen ruderte, um ihr
Gleichgewicht zurückzugewinnen. Sie durfte das Gelände nicht aus den Augen
lassen. Vom Permafrost heimgesucht, wollte der
Untergrund einfach nicht eben bleiben. Stattdessen schlug er Falten, in
denen ihre Füße hängen blieben, wenn sie nicht achtgab. Die schwarzen Bäume
breiteten sich völlig planlos aus, wuchsen schief aus der Erde. Der Boden
wölbte sich und formte steile Hügel und tiefe Spalten, die funkelndes Eis
verbargen. Chey stieß ständig gegen Wurzeln
oder zerklüftete Steine. Nach allem, was sie durchgemacht hatte, konnte sie ihren
Sinnen sowieso kaum vertrauen. Abgesehen von den Energieriegeln hatte sie
nichts Vernünftiges gegessen, hatte nicht richtig geschlafen, und außer dem
Innenfutter ihres zerrissenen Parkas gab es keinen Schutz vor den Elementen.
    Dort draußen war nichts,
versicherte sie sich. Das halb verhungerte Gehirn spielte ihr nur einen Streich.
Im Wald gab es kein Leben. Den ganzen Tag über hatte sie nicht einmal einen
Vogel oder ein Streifenhörnchen gesehen. Sie blieb stehen und wandte sich um,
nur um sich selbst zu beweisen, dass niemand sie verfolgte.
    Zwischen zwei Bäumen flackerte ein gelbes Augenpaar und funkelte wie
die Reflektoren zweier Taschenlampen. Die Augen fingen das fischbauchweiße
Mondlicht ein und schienen Chey damit zu durchbohren. Sie erstarrte. Ganz
langsam schlossen sich die Augen wieder und waren erloschen wie die Scheite am
Grund eines niedergebrannten Lagerfeuers.
    »Oh, Scheiße!«, hauchte Chey und schlug sich eine Hand vor den Mund.
Unter dem Parka stellten sich die Härchen auf ihren Armen auf. Langsam drehte
sie sich im Kreis. Ein Wolf. Das war ein Wolf gewesen, ein Timberwolf. Da war
sie sich sicher. Gab es mehr von ihnen? Hielt sich in der Nähe ein Rudel auf?
    Da hörte sie sie heulen. Hunde, die den Mond anjaulten, waren ihr
vertraut, aber diese Laute hatten keinerlei Ähnlichkeit damit. Das Heulen
wollte kein Ende nehmen, neue Stimmen fielen ein und machten mit, brachten
einen Ton hervor, der fast schon traurig klang.
    Chey fehlte bereits die Energie, um auch nur einen Schritt
weiterzugehen. Ihr Gesicht verzog sich zu einer Grimasse schieren Entsetzens. Dann
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