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Fremder an meinem Ufer

Fremder an meinem Ufer

Titel: Fremder an meinem Ufer
Autoren: Lindsay Gordon
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Tropenbewohner, der in den Golfstrom geraten und nach Norden gezogen worden war. Im Aquarium hatten wir spezielle Becken für Tiere, die sich erholen mussten. Ich besaß nur meinen Whirlpool, aber das würde reichen müssen.
    Ihn vom Wagen zu bekommen, war ein weiteres Abenteuer. Ich wollte ihn nicht mit der Seilwinde die Treppe hinaufziehen, aber mir fiel keine andere Möglichkeit ein, ihn zu bewegen.
    Als ich das dachte, schlang er die Arme um meinen Hals und machte sich irgendwie leichter. Schwer war er immer noch, aber ich konnte ihn bewegen – es war, als trage er einen Teil seines Gewichts selbst. Ich versuchte, mich nicht damit aufzuhalten, wie gut sich seine Umarmung anfühlte. Das, sagte ich mir selbst energisch, war einfach nur abartig.
    Warum?, dachte er. Es tut gut, zu umarmen und umarmt zu werden . Warme Eindrücke von Berührungen, Zärtlichkeiten, Paarungen im Auf und Ab klaren Wassers – ja, er entstammte eindeutig den Tropen. Was ist falsch daran?
    Dann war sein kurzer Energieschub vorüber. Muss erst gesund werden , nahm ich wahr. Nicht in der Lage, mich zu paaren . Fischschwanz oder nicht, er war durch und durch männlich.
    Vorsichtig schob ich ihn in den Whirlpool. Er lächelte; und dann begann er zu versinken, wie ich befürchtet hatte. Das Wasser war nicht tief, und er kam auf der nächstgelegenen Bank zum Halten. Aber ich war mir nicht sicher, wie lange er über der Oberfläche bleiben konnte.
    Wenn ein Delphin strandete, wechselten wir uns in seinem Becken ab und hielten ihn buchstäblich über Wasser, bis er wieder Kraft zum Schwimmen hatte. Ich hatte niemanden, der sich mit mir abwechseln konnte. Andererseits war mein Patient ein intelligentes Wesen. Sobald sich seine Körpertemperatur anpasste, könnte ich ihm wahrscheinlich eine Schwimmweste anlegen. Doch unterdessen blieb mir nichts anderes übrig. Ich wagte nicht einmal, ihn lange genug allein zu lassen, um mir einen Badeanzug zu holen.
    Ich warf die Kleider ab und glitt in den Whirlpool. Ich versuchte, mir mütterliche oder medizinische Gefühle einzureden, aber ich bin mir nicht sicher, ob mir das gelang. Schwach, wie er war, warf er mir einen Blick zu, der mich deutlich daran erinnerte, dass er männlich, prachtvoll und von menschlichen Hemmungen unberührt war. Hübsch , dachte er, oder etwas Ähnliches. Andersartig, aber hübsch .
    Das verblüffte mich mehr als alles andere, was bereits passiert war. Hübsch? Ich? Ben hatte nie gesagt, ich sei nicht schön, aber er hatte auch nie gesagt, ich wäre es. Er hatte sogar oft kleine, höfliche Vorschläge gemacht. »Weißt du, wenn du dein Haar lang wachsen lassen würdest … wenn du ein wenig Rouge und Eyeliner tragen könntest … oder mal einen anderen Kleidungsstil probieren …« Aber ich lasse mein Haar kurz schneiden, trage kein Makeup und wähle einfache Kleidung, da ich nie weiß, wann ich von Berufs wegen ins Wasser springen muss. Schlussendlich konnte Ben das nicht akzeptieren. Konnte nicht damit leben, dass ich einen Strandspaziergang einem Essen in einem netten Restaurant vorzog, dass ich lieber in der neuesten wissenschaftlichen Zeitschrift las, statt mir den neuesten Film anzusehen. Und so war er schließlich gegangen und hatte ein paar Erinnerungen und einen Whirlpool voller Meerwasser zurückgelassen.
    Trauri g, dachte der Meermann.
    »Nicht wirklich«, antwortete ich laut, ohne darüber nachzudenken. »Es ist nur … manchmal fehlt mir das, was vielleicht hätte sein können.«
    Warum verbringst du so viel Zeit mit dem, was hätte sein können? Wieso denkst du nicht daran, was in Zukunft sein könnte?
    Tat ich das wirklich?
    »Manchmal vermisse ich ihn«, gestand ich. »Aber um ehrlich zu sein, war ich nicht die Richtige für ihn.« Es tat nicht einmal mehr weh, es auszusprechen. »Ich bin für die meisten Leute nicht die Richtige«, fuhr ich fort. »Ich bin sehr eingefahren in meinen Gewohnheiten, und ich bin gern allein.«
    Der Meermann schüttelte sehr leicht den Kopf, als ermüde ihn die Bewegung. Es ist nicht natürlich, allein zu sein , antwortete er mir in Gedanken. Natürlich ist, eine Gefährtin zu finden und zusammen mit ihr fröhlich zu sein .
    Ich fing ein Gedankenbild von zwei Meermenschen auf, die im Wasser spielten. Sonnenstrahlen fielen durch das Wasser, und die beiden vergnügten sich darin und huschten zwischen den Lichtbündeln umher. Durch das klare, türkisfarbene Wasser konnten sie bis zum Meeresgrund hinabsehen, ihrem nächsten Ziel. Sie
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