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Fremde

Fremde

Titel: Fremde
Autoren: Gardner R. Dozois
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den Sand. Er fühlte, daß das Lied des Alàntene ihn packen würde, wenn er fiel oder stolperte, packen und davontragen, und er könnte darauf reiten wie eine Möwe im Wind …
    Hier vereinigte sich der Aome-Fluß, der aus dem Westen heranrollte mit dem Meer, dem Alten Meer, dem großen Nordozean, dem Welt-Ozean. Der Aome war eine brausende, graue Turbulenz zur Rechten, ein Streifen hellerer Dunkelheit gegen die stockfinstere Nacht, mehr zu hören und zu fühlen, als zu sehen. Zur Linken erstreckten sich die Dünen im rechten Winkel zu Farbers Weg in einer ununterbrochenen Kette nach Norden; mehr als dreihundert Meilen zogen sie sich mit dem Strandstreifen zu ihren Füßen schnurgerade dahin: der Nordstrand von Shasine. Im Süden, jenseits des Aome und zur Zeit unsichtbar, lagen die endlose Meilen weiten Salzmarschen. Geradeaus, gen Osten, öffnete sich die Nacht zu einem Gefühl widerhallenden, endlosen Raumes. Das Meer wartete dort hinter den Nebeln – der Geruch seines Salzes hing in dem nassen Wind, der Farbers Wangen peitschte, hinter dem Gesang hörte man das Rollen seiner Brandung, und jenseits des Festplatzes schimmerten seine Brecher im Fackelschein, während sie gegen den Strand gischteten.
    Farber kam an dem L-förmigen Umriß des Meer-Fluß-Hauses vorbei und ging so nah wie möglich zum Wasser. Dort standen Cian Schulter an Schulter gedrängt, Tausende und Tausende. Rauchiges, rotes Fackellicht glitzerte auf Zähnen und Augen – riesige Pupillen mit einer riesigen Iris darin und nadelspitze Fangzähne. Sie schwankten alle in einem langsamen, mächtigen Rhythmus von einer Seite zur anderen. Es wirkte wie eine Art schlurfender Tanzschritt – einer vorwärts, einer zurück, ein Schritt zur Seite, wieder ein Schritt vorwärts, stampfen, stampfen, stampfen, stampf! Nichts daran wirkte bewußt; die Bewegung war eine unbewußte, instinktive Antwort auf die Musik, fast ein Tropismus. Die Cian waren völlig von der Zeremonie gefangen, ihre ganze Aufmerksamkeit richtete sich darauf, und vielleicht merkten sie nicht einmal, daß ihre Körper in der nassen, raucherfüllten Dunkelheit schwankten und stampften. Nach einiger Zeit entdeckte Farber, wie er selbst die Bewegungen mitmachte – ohne sich anzustrengen und perfekt zum Rhythmus passend, als hätte er schon sein ganzes Leben Erfahrung darin. Im ersten Augenblick fand er es erschreckend, dann seltsam aufregend, und schließlich erstarben beide Gefühle, und es gab nichts anderes mehr als den Gesang, die ständige mesmerisierende Bewegung der Menge, die überwältigende Hitze Hunderttausender, dicht gedrängter Körper, den beißenden Gestank nichtmenschlichen Schweißes.
    Auf der anderen Seite der Menge fand die Zeremonie statt, der eigentliche Alàntene. Die Musiker mit ihren Trommeln, Flöten und an Zithern oder Mandolinen erinnernden Saiteninstrumenten saßen mit übereinandergeschlagenen Beinen in einem riesigen Halbkreis vor der ersten Zuschauerreihe. Ihre Hände schlugen, tasteten und zupften mit unveränderlicher, gleichmäßig wiederholter, unmenschlicher Präzision, als seien sie unter weiten Roben verborgene Roboter. Dabei warfen sie sich im Takt ihrer Musik schnell vor und zurück. Ganz links von Farber, zwischen die Musikanten und das Meer gedrängt, befanden sich die Sänger – mehr als hundert hellgekleidete Cian, alles Männer und alle alt: schneeweißes Haar, glitzernde Silberaugen, die Gesichter von vielfach verwobenen Linien und Falten gezeichnet, ausdruckslos wie in Stein gehauen. Sie vollführten eine kompliziertere, einstudierte Version des Tanzes der Menge. Einige beschrieben ritualisierte Gesten und schwungvolle Bewegungen mit Händen und Armen, andere warfen in regelmäßigen Abständen Hände voll Pulver in die Fackeln, so daß sie silbern, ambergrün und Scharlach aufloderten. Ein Teil der Sänger stand inzwischen durch das Einlaufen der Flut bis zur Hüfte im Wasser; sie setzten jedoch unbeeindruckt ihren Gesang fort. Weiter weg zur Rechten war eine andere Gruppe alter Männer mit etwas beschäftigt, das nach einer dramatischen Aufführung aussah, vergleichbar mit einem irdischen No-Spiel – ihre Stimmen, die sprachen und nicht intonierten oder sangen, schnitten von Zeit zu Zeit durch die anderen Geräusche.
    Aber den Mittelpunkt der Zeremonie, das Herz des Alàntene, bildeten die Tänzer. Sie nahmen den größten Teil des von Fackeln erleuchteten Strandstückes ein und tanzten am Rand des Alten Meeres auf dem feuchten, festen
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