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Freikarte fürs Kopfkino

Freikarte fürs Kopfkino

Titel: Freikarte fürs Kopfkino
Autoren: Selim Özdogan
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sprach, waren vorbei, die Menschen brauchten nicht mehr motorisiert zu sein, sie mussten sich kaum noch bewegen, alles war immer nur wenige Klicks entfernt.
    - Früher kannten die Menschen ihre Füße so gut wie ihre Hände, sagte Mutter und verstummte dann, weil Tante Margits Rechner auch ein Signalton von sich gab. Kurz darauf kam Tante Margit durch die Hintertür.
    Sie mochte es nicht, wenn Mutter so von früher erzählte. Früher, wenn man Tante Margit zuhörte, hatte es ein ganz anderes Früher gegeben.
    Tante Margit setzte sich meiner Mutter gegenüber an ihren Rechner und überspielte die Daten auf das Paar Füße, das auf ihrer Seite aus dem Tisch ragte. Sie begann zu massieren. Die Stille verriet uns.
    - Hast du wieder von früher erzählt?, fragte Tante Margit. Du lügst dem Kind eine Vergangenheit zurecht. Jackie, sagte sie und wandte sich an mich, man kann es nicht oft genug sagen, aber so, wie deine Mutter es erzählt, war es nie. Früher kamen die Kunden in unseren Laden, sie haben ihre Schuhe ausgezogen und den Schweißgeruch hast du den ganzen Tag nicht mehr aus der Nase bekommen, egal wie gut du ihnen die Füße gewaschen hast und egal, wie du dir die Nase gespült hast. Man musste ihre Warzen, Schwielen, Hühneraugen berühren, die verwachsenen Zehen. Man hat die eingewachsenen Nägel gesehen, die dicke Hornhaut gespürt, den Pilz zwischen Zehen entdeckt. Wenn ich abends gekocht habe, wollte ich nicht mal mehr das Messer anfassen, geschweige denn das Gemüse. Mit den Händen, mit denen ich massiert habe, habe ich gekocht und gegessen. Und heute? Saubere Silikonfüße. Man lädt Spiegelneuronen drauf, massiert sie und der Kunde kann sich die bearbeiteten Spiegelneuronen in sein System laden. Fortschritt. Runterladen und gleich erholt fühlen. Keine weiten Wege, kein Warten, man muss nicht mehr anwesend sein, aber das waren sie ja auch nicht, als sie noch körperlich hier waren. Und für uns? Kein Gestank, keine Warzen, keine abgefaulten Nägel, kein Waschen, einfach saubere Arbeit. Und genauso gut bezahlt wie damals. Eigentlich sogar besser. Weißt du, was wir damals für den Laden Miete zahlen mussten? Redet deine Mutter je davon? Der Tee, den die Leute getrunken haben, während sie warteten, war ja umsonst. Und was sie für einen Schwachsinn geredet haben. Oder wie sie auf diese kleine Fläche gestarrt haben, die sie da in der Hand hielten. Die Menschen haben ja gar nichts mehr gesehen außer dem Bildschirm ihres Telefons. Aber alle haben geglaubt, sie wüssten etwas von der Welt, weil sie auf dem Bildschirm darüber gelesen haben. Glaub mir, es ist gut, dass wir heute nicht mehr wissen, wem die Füße gehören, da arbeitet man einfach besser. Es ist mir egal, wer da seine Daten überspielt, weil er eine Massage möchte. Ich bediene alle gleich gut, das war früher nicht so. Und ich gehe mit sauberen Händen aus dem Büro. Deine Mutter träumt, Mädchen, lass dir das gesagt sein. Weißt du woran du erkennen kannst, ob jemand alt ist? Daran, dass er dir erzählt, dass früher alles besser war. Man muss manchmal einfach seine Brille absetzen, wenn man klar sehen will.
    Tante Margit war nicht wie Mutter, man musste ihr keine Fragen stellen, damit sie weiterredete. Doch nun schwiegen wir alle drei. Tante Margit war schneller fertig als meine Mutter, sie stand auf und ging vorne raus, um eine zu rauchen. Rauchende Menschen in Hauseingängen sah man öfters, aber Tante Margit war von Frühling bis Herbst auch noch barfuß und die Passanten schauten sie oft komisch an.
    - Füße sind mehr als nur Spiegelneuronen, auch wenn die Wirksamkeit der Spiegelneuronenmassage wissenschaftlich bewiesen ist, sagte Mutter. Ein Fuß hat 26 Knochen, 107 Bänder und 19 Muskeln. 52 Knochen, 214 Bänder, 38 Muskeln, das ist unser Fundament, das ist, was uns mit der Erde verbindet, das ist, was uns trägt. Durch das Leben. Den ganzen Tag belasten wir die Füße, doch anstatt dankbar zu sein, vernachlässigen wir sie und sperren sie ein. Barfuß laufen, damit die Füße Luft holen können, atmen, das müsste normal sein, doch die Menschen haben Angst vor der Erde, sie haben Angst vor Kontakt. Sie wollen Grenzen, und dieses Internet und die Spiegelneuronen lassen sie glauben, die Grenzen hätten sich aufgelöst, aber dabei sind sie stärker als vorher, nur eben nicht mehr sichtbar. Kontakt. Der Klang eines Stöhnens vor dir, das Gefühl von Haut an Haut, und sei es Hornhaut, der Geruch, allein die Tatsache, dass man im selben
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