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Franzen, Jonathan

Franzen, Jonathan

Titel: Franzen, Jonathan
Autoren: Freihheit
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Erzählungen
immer Walter die Erziehungsmaßnahmen ergreife, als wäre sie selber eine
belanglose Randfigur, die bloß süß zu sein
habe?
    «Ich frage
mich, ob sie Walter eigentlich liebt oder nicht», sinnierte Seth
hoffnungsfroh, während er eine letzte Flasche entkorkte. «Körperlich, meine
ich.»
    «Der Subtext lautet doch immer: , sagte
Merrie. «Andauernd beklagt sie sich darüber, was für eine enorm lange
Aufmerksamkeitsspanne er hat.»
    «Also, um
fair zu sein, das passt doch gut zu seiner Sturheit», sagte Seth. «Zu der
unendlichen Geduld, mit der er sich gegen Walter auflehnt.»
    «Jedes
Wort, das sie über ihn sagt, ist eine Art indirekte Angeberei.»
    «Gibst du
etwa nie an?», stichelte Seth.
    «Wahrscheinlich
schon», sagte Merrie, «aber wenigstens habe ich ein minimales Gespür dafür, wie
sich das für andere Menschen anhört. Und mein Selbstwertgefühl hängt nicht
davon ab, wie außergewöhnlich unsere Kinder sind.»
    «Du bist
eben die perfekte Mutter», stichelte Seth.
    «Nein, das
ist wohl Patty», sagte Merrie und ließ sich noch Wein nachschenken. «Ich bin
lediglich sehr gut.»
    Joey, klagte Patty, fliege alles nur so zu. Er war goldblond und hübsch und
schien die Lösungen sämtlicher Aufgaben, die eine Schule ihm stellen konnte,
von Natur aus zu kennen, so als wären ihm Multiple-Choice-Kombinationen
aus As, Bs, Cs und Ds in die DNA eingeschrieben. Mit Nachbarn, die fünfmal so
alt waren wie er, ging er verblüffend unbefangen um. Wenn er von der Schule
oder seinem Wölflingsrudel zum Haustürverkauf von Schokoriegeln oder
Lotterielosen verdonnert worden war, erzählte er freiheraus, auf was für
«Gaunermethoden» er dabei zurückgriff. Er perfektionierte ein äußerst
unangenehmes Lächeln der Herausforderung, wenn er bei anderen Jungen
Spielsachen oder Spiele entdeckte, die Patty und Walter ihm nicht zu kaufen
bereit waren. Um dieses Lächeln auszulöschen, bestanden seine Freunde darauf,
ihren Besitz mit ihm zu teilen, und so wurde er zu einem Eins-a-Videospieler,
obwohl seine Eltern Videospiele ablehnten, und entwickelte eine umfassende
Vertrautheit mit eben jener Rockmusik, vor der sie seine präadoleszenten Ohren
so unbedingt bewahren wollten. Er war nicht älter als elf oder zwölf, als er,
so Patty, seinen Vater am Abendbrottisch, aus Versehen oder mit Absicht,
«Bruder» nannte.
    «O-ho, kam
das bei Walter nicht gut an», sagte sie zu den anderen Müttern.
    «So reden
die Teenager heute alle miteinander», sagten die Mütter. «Das hat was mit Rap zu tun.»
    «Ja, genau
das hat Joey auch
gesagt», erzählte Patty weiter. «Er hat gesagt, es sei nur ein Wort und nicht
mal ein schlimmes. Und natürlich war Walter anderer Meinung. Und ich sitze da
und denke: zweck-los>, aber nein, er muss ihm
erklären, warum man zum Beispiel zu einem erwachsenen Mann, vor allem zu einem
Schwarzen, nicht sagen darf, obwohl das auch kein schlimmes Wort
ist, aber Joey weigert
sich ja gerade, irgendeinen Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen
anzuerkennen, das ist doch das Problem, und so endet es damit, dass Walter
sagt, Joey bekomme keinen Nachtisch, woraufhin Joey behauptet, er wolle sowieso
keinen, er möge Nachtisch gar nicht besonders, und
ich sitze da und denke ,
aber Walter kann nicht anders - er muss Joey beweisen, dass er
Nachtisch in Wirklichkeit liebt, aber Joey akzeptiert keinen von Walters Beweisen. Er behauptet, was natürlich
eine absolut schamlose Lüge ist, dass er sich sonst nur deshalb vom Nachtisch
nachgenommen hat, weil das so Sitte sei, und nicht, weil es ihm etwa gut
geschmeckt habe, und der arme Walter, der es nicht erträgt, angelogen zu
werden, sagt: mit einem ganzen Monat ohne?>, und ich denke: Wal-ter, Wal-ter, das-kann-nicht-gut-aus-ge-hen>, denn Joeys Antwort lautet: Nachtisch aus, ich esse nie wieder Nachtisch,
höchstens aus Höflichkeit, wenn ich irgendwo eingeladen bin>, was komischerweise
eine glaubhafte Drohung ist - mit seinem Dickkopf könnte er das wahrscheinlich
sogar durchhalten. Also sage ich: wichtiger Ernährungsbestandteil, jetzt lasst uns mal schön auf dem Teppich
bleiben>, wodurch im Handumdrehen Walters Autorität untergraben ist, und da
es in der ganzen
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