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Franzen, Jonathan

Franzen, Jonathan

Titel: Franzen, Jonathan
Autoren: Freihheit
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jedenfalls beileibe keine Feministin war (sie, die mit
ihrem Geburtstagskalender zu Hause hockte und diese vermaledeiten Geburtstagskekse
buk) und gegen Politik überhaupt allergisch schien. Wer sie auf eine Wahl oder
einen Kandidaten ansprach, konnte erleben, wie sie sich vergebens bemühte, so
froh und unbekümmert wie sonst zu sein - konnte erleben, wie sie hektisch wurde
und in zu häufiges Nicken und Jajasagen verfiel. Merrie, zehn Jahre älter als Patty, und jedes einzelne davon sah man ihr an, hatte sich früher für die
linke Studentenorganisation SDS in Madison engagiert
und engagierte sich jetzt sehr in Sachen Beaujolais nouveau. Als Seth bei einem
Abendessen Patty zum
dritten oder vierten Mal erwähnte, wurde Merrie nouveau rouge im Gesicht und erklärte, Patty Berglunds
vermeintlicher Nachbarschaftlichkeit liege null weitergehendes
Bewusstsein, null Solidarität, null politische
Substanz, null belastbare Struktur, null wahrer
Gemeinschaftssinn zugrunde, das sei vielmehr alles bloß rückwärtsgewandter
Hausfrauenquatsch, und sie, Merrie, glaube, wer je an der ach so netten
Oberfläche kratzen würde, wäre womöglich überrascht, wie viel Härte, Egoismus,
Konkurrenzdenken und Reaganismus darunter zum Vorschein kämen; es sei doch
glasklar, dass für Patty einzig und
allein ihre Kinder und ihr Eigenheim zählten - nicht ihre
Nachbarn, nicht die Armen, nicht ihr Land, nicht ihre
Eltern, ja noch nicht einmal ihr Mann.
    Außerdem
war Patty unbestreitbar in ihren Sohn
vernarrt. Obwohl Jessica ihren Eltern viel offensichtlicher Freude machte -
sie verschlang Bücher, liebte Tiere und Pflanzen, spielte sehr gut Flöte, ließ
sich auf dem Fußballplatz nicht unterkriegen, war eine begehrte Babysitterin
und nicht hübsch genug, um moralisch dadurch deformiert zu sein, sogar von
Merrie Paulsen wurde sie bewundert -, war Joey
das Kind, über das sich Patty immerzu
verbreiten musste. In ihrer kicherigen, vertrauensseligen, sich selbst
herabsetzenden Art spuckte sie tonnenweise ungefilterte Details über ihre und
Walters Schwierigkeiten mit ihm aus. Die meisten ihrer Geschichten kamen als
Klagen daher, und dennoch bezweifelte niemand, dass sie den Jungen vergötterte.
Sie war wie eine Frau, die sich über ihren ganz wunderbaren Dreckskerl von
Freund beklagt. Als wäre sie stolz darauf, dass er auf ihrem Herzen
herumtrampelte: als wäre ihre Bereitschaft, sich von ihm auf dem Herzen
herumtrampeln zu lassen, das Wichtigste, ja vielleicht das Einzige, was die
Welt von ihr wissen sollte.
    «Er ist
ein richtiges kleines Aas», sagte sie zu den anderen Müttern während des
langen Winters der Zubettgehkriege, als Joey das Recht
für sich in Anspruch nahm, so lange wach zu bleiben wie Patty und Walter.
    «Hat er
Wutausbrüche? Weint er?», fragten die anderen Mütter.
    «Ist das
euer Ernst?», sagte Patty. «Schön wär's, wenn er
weinen würde! Weinen wäre ja normal, und es würde auch irgendwann wieder
aufhören.»
    «Was macht
er denn dann?», fragten die Mütter.
    «Er
zweifelt die Grundlage unserer Autorität an. Wir lassen ihn in seinem Zimmer
das Licht ausmachen, aber sein Standpunkt ist, dass er erst dann ins Bett gehen muss, wenn wir bei uns das Licht
ausmachen, weil er kein bisschen anders ist als wir. Und ich schwöre bei Gott,
man kann die Uhr danach stellen, alle fünfzehn Minuten - ich schwör's euch, er
liegt da und starrt auf seinen Wecker -, alle fünfzehn Minuten ruft er: noch wach! Ich bin noch wach!> Und zwar in so einem verächtlichen oder sarkastischen Ton, ganz seltsam. Und ich
flehe Walter an, den Köder diesmal nicht zu schlucken, aber nein, schon ist es
wieder Viertel vor zwölf, und Walter steht in Joeys dunklem Zimmer, und sie streiten sich zum hundertsten Mal über den
Unterschied zwischen Erwachsenen und Kindern und darüber, ob eine Familie eher
eine Demokratie oder eine wohlwollende Diktatur ist, und am Ende bin ich diejenige,
die die Nerven verliert, versteht ihr - bin ich es, die im Bett liegt und
jammert.»
    Merrie Paulsen konnte Pattys Geschichten
nichts abgewinnen. Eines späten Abends, als sie nach einem Essen, das Seth und
sie gegeben hatten, das Geschirr in die Spülmaschine räumte, sagte sie zu ihm,
es sei doch kaum verwunderlich, dass Joey Schwierigkeiten
habe, zwischen Kindern und Erwachsenen zu unterscheiden - schließlich scheine
seine Mutter ja selbst nicht genau zu wissen, auf welche Seite sie gehöre. Sei
ihm nicht auch aufgefallen, dass in Pattys
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