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Franzen, Jonathan

Franzen, Jonathan

Titel: Franzen, Jonathan
Autoren: Freihheit
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die Entwertung
ihrer Kapitalanlagen zwang einige von ihnen, ihre jährlichen Winteraufenthalte
in Florida oder Arizona abzusagen -, und zwei von den jüngeren Familien in der
Straße, die Dents und die
Dolbergs, waren mit ihrer Hypothekentilgung in Verzug geraten (deren
abzuzahlende Beträge genau im falschen Moment stark angestiegen waren) und
drohten, ihre Häuser zu verlieren. Während Teagan Dolberg auf Antworten von
Kreditkonsolidierungsunternehmen wartete, die ihre Telefonnummern und
Mailadressen offenbar wöchentlich änderten, und Kontakt mit kostengünstigen
staatlichen Schuldenberatern aufnahm, die sich als weder staatlich noch
kostengünstig entpuppten, wuchsen die Außenstände auf ihren Visa- und
MasterCard-Konten in monatlichen Sprüngen á drei- und viertausend Dollar, und
die Freundinnen und Nachbarinnen, denen sie Maniküretermine im Zehnerpack
verkauft hatte, kamen weiterhin zu ihr, damit sie ihnen in ihrem Maniküresalon
im Keller ihres Hauses die Nägel machte, ohne dass es ihr noch etwas
einbrachte. Selbst Linda Hoffbauer, deren Mann bombensichere
Straßeninstandhaltungsverträge mit dem Itasca County abgeschlossen
hatte, war dazu übergegangen, den Thermostat herunterzudrehen und ihre Kinder
mit dem Schulbus fahren zu lassen, anstatt sie mit ihrem Suburban hinzubringen und wieder abzuholen. Ängste hingen wie eine Wolke
Sandfliegen über dem Canterbridge Court; sie drangen via Nachrichtensendungen,
Talkradio und Internet in jedes Haus. Viel Gezwitscher gab es auf Twitter, aber die tschirpende und flatternde Welt der Natur, die Walter
beschworen hatte, als müsste sie den Menschen auch in dieser Situation etwas
bedeuten, war eine Angst zu viel.
    Das
nächste Mal ließ Walter im September wieder von sich hören, als er im Schutz
der Nacht Flugblätter in der Nachbarschaft verteilte. Die Häuser der Dents und Dolbergs standen jetzt leer - ihre Fenster waren dunkel geworden
wie die Signallämpchen von Anrufern, die in einer Notrufzentrale in der
Warteschleife gehangen und irgendwann still und leise aufgelegt hatten -, aber
alle verbliebenen Bewohner der Canterbridge-Siedlung fanden auf dem Boden vor
ihrer Haustür eines Morgens nach dem Aufwachen einen höflich formulierten
«Liebe Nachbarn»-Brief liegen, in dem Walter die schon zweimal dargelegten
Anti-Katzen-Argumente wiederkäute, ergänzt durch einen aus vier Seiten
bestehenden Anhang mit Fotografien, die das Gegenteil von höflich waren.
Anscheinend hatte Walter den gesamten Sommer damit zugebracht, das Vogelsterben
auf seinem Grundstück zu dokumentieren. Jedes Bild (und es gab mehr als vierzig
davon) war mit einem Datum und dem Namen einer Spezies versehen. Die
Canterbridge-Familien, die keine Katzen besaßen, fühlten sich angegriffen,
weil sie in die Flugblattaktion mit einbezogen worden waren, und die Familien,
die welche besaßen, fühlten sich angegriffen, weil Walter mit solcher
Sicherheit davon auszugehen schien, dass jeder tote Vogel auf seinem Grundstück
auf das Konto speziell ihrer Haustiere ging. Linda Hoffbauer erzürnte sich noch
zusätzlich darüber, dass ein Flugblatt dort gelegen hatte, wo eines ihrer
Kinder es leicht hätte finden und mit traumatisierenden Bildern von Ammern mit
abgetrenntem Kopf und blutigen Eingeweiden hätte konfrontiert werden können.
Sie rief den County-Sheriff an, mit
dem sie und ihr Mann gesellschaftlich verkehrten, und erkundigte sich, ob
Walter sich eventuell der illegalen Belästigung schuldig gemacht habe. Der Sheriff sagte, das habe er nicht, erklärte sich aber bereit, bei ihm
vorbeizufahren und ein Wort der Warnung auszusprechen - ein Besuch, der die
unerwartete Neuigkeit ans Licht brachte, dass Walter Jura studiert hatte und
nicht nur den Ersten Verfassungszusatz, der die Redefreiheit garantiert, sehr
genau kannte, sondern auch die Vereinbarung der Canterbridge-Hauseigentümer mit
der Klausel, nach der Haustiere zu allen Zeiten von ihren Besitzern zu
beaufsichtigen seien; der Sheriff riet
Linda, das Flugblatt zu zerreißen und die Sache auf sich beruhen zu lassen.
    Und dann
kam der weiße Winter, und die Katzen der Nachbarschaft zogen sich nach drinnen
zurück (wo sie, wie sogar Linda zugeben musste, vollkommen zufrieden wirkten),
und Lindas Ehemann höchstpersönlich nahm es auf sich, die Landstraße nach jedem
Schneefall so zu räumen, dass Walter eine Stunde lang schippen musste, bis die
Einfahrt zu seinem Grundstück wieder frei war. Jetzt, ohne das Laub an den
Bäumen, hatte die ganze
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