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Fluch der 100 Pforten

Fluch der 100 Pforten

Titel: Fluch der 100 Pforten
Autoren: N Wilson
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zurück nach Boston müssen, bekäme eine neue Vitamin-Kur und ein neues Kindermädchen, und dann ging es wieder ab ins Internat. Vielleicht in ein neues. Sein drittes.
    Eltern! Wenn er an sie dachte, nannte er sie immer noch
so. Ob sie ihm wohl jemals erzählt hätten, dass Großvater ihn auf dem Dachboden gefunden hatte? Wahrscheinlich nicht. Es machte Henry nichts aus, dass er ein Adoptivkind war. Es machte ihm aber wohl etwas aus, dass seine Eltern für ihn niemals richtige Eltern gewesen waren – so wie Onkel Frank und Tante Dotty es für seine Cousinen waren. Henry hatte immer gewusst, an welcher Stelle er auf der Liste seiner Eltern für wichtige Dinge rangierte.
    Gestern hatte er seine Eltern im Fernsehen gesehen. Er hatte gerade in seinem Müsli gerührt und seiner jüngsten Cousine Anastasia zugehört, wie sie sich über Richard beschwerte, als sein Onkel ihn rief. Er war schnell ins Wohnzimmer gelaufen, und als er den Raum betrat, hatte sein Onkel mit dem Finger auf den Fernseher gedeutet. Dort, auf einem unbequemen Sofa irgendwo in einem Fernsehstudio, saßen Philipp und Ursula, lächelnd und nickend. Beide hatten die Hände auf den Knien gefaltet. Ursula starrte fortwährend in die Kamera. Sie sah aus wie Henrys Tante Dotty, nur mit etwas strengeren Gesichtszügen. Die beiden erzählten von ihrer ungeheuren Ausdauer und wie schwer es war, mit dem Rad durch die Anden zu fahren; wie sie nie die Hoffnung aufgaben, ihre Reise zu Ende führen zu können, selbst, nachdem sie in Kolumbien entführt worden waren; sie erzählten von der Höhe ihres Buchvorschusses und von ihren Gesprächen mit Filmproduzenten.
    Im Großen und Ganzen erinnerte Henry sich an alles, was die beiden gesagt hatten. Zwei Dinge gab es aber, die ihm am allerwichtigsten erschienen, und die mit jeder einzelnen Silbe in Beton gegossen waren:

    »Stehen Sie einander nun noch näher?«, hatte die Frau im Studio gefragt. »Nachdem Sie all das gemeinsam durchgemacht haben?«
    Ursula hatte sich vorgebeugt, und Philipp lehnte sich ein Stück zurück.
    »Wissen Sie«, hatte Ursula gesagt. »Wir beide haben uns in dieser Zeit sehr verändert. Wir müssen den anderen jeweils ganz neu kennenlernen. Aber zuerst einmal müssen wir uns selbst kennenlernen.«
    Philipp hatte genickt.
    Henry wusste genau, was das zu bedeuten hatte.
    Und dann hatte sich die Frau nach ihm erkundigt. »Nun, Sie haben ja einen gemeinsamen Sohn. Ist das richtig?«
    »Das ist richtig«, hatte Philipp bestätigt.
    Ursula hatte gelächelt. »Unser kleiner Henry.«
    »Das Wiedersehen muss wunderbar gewesen sein. Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie ihn sahen?«
    »Ach, es war unbeschreiblich«, hatte Ursula gesagt. »Solche Glücksgefühle! Wie man als Mutter eben empfindet.«
    »Sehr bewegend«, hatte Philipp gesagt.
    Es war ein komisches Gefühl gewesen, seinen Eltern beim Lügen zuzusehen. Onkel Frank hatte ihm nachher auf die Schulter geklopft und Tante Dotty hatte ihn umarmt. Anastasia hatte den Mund aufgemacht, aber Penelope, die Älteste und Ernsthafteste, hatte sie gekniffen, bevor sie etwas sagen konnte. Henrietta hatte sich die Locken zurückgestrichen und ihn angesehen.
    Henrietta war es gewesen, mit der zusammen Henry die Fächer geöffnet hatte. Sie hatten auf dem Dachboden gekniet
und in fremde Welten geschaut. Aber sie stellte ihn immer weiter auf die Probe und wollte sehen, ob er sich nicht doch noch als Schwächling erweisen würde. Henry war klar, dass sie herauskriegen wollte, ob er traurig war. Er war es aber nicht. In diesem Moment jedenfalls nicht.
     
    »Was soll ich machen?«, fragte Henry den Ragganten. »Ich werde nicht hierbleiben und du wirst nicht mit mir mitkommen können, auch wenn du es versuchst. Sie würden dich an einen Zoo verkaufen. Oder an einen Zirkus.«
    Eine heiße Brise strich über die Felder und kräuselte ihre Oberfläche wie eine zähe Flüssigkeit. Der Raggant hatte die Augen geschlossen, aber seine Nüstern blähten sich.
    »Und Richard ist noch schlechter dran«, fuhr Henry fort. Der spindeldürre Richard, der Henry durch eine Pforte nach Kansas gefolgt war, lag ihm schwer auf der Seele. »Wenn er nicht für immer hierbleiben kann, muss er durch die Fächer zurück. Wenn nicht nach Hause, dann irgendwo anders hin. Sofern Anastasia ihn nicht vorher umbringt.«
    Irgendwo unten, auf der anderen Seite der Scheune, hörte man, wie mit einem Rasseln ein altes Tor aufgeschoben wurde.
    »Henry von York!«, rief Onkel Frank.
    Henry drehte
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