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Fließendes Land (German Edition)

Fließendes Land (German Edition)

Titel: Fließendes Land (German Edition)
Autoren: Angelika Overath
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überproportional große Pfoten, sagte Silvia und setzte sich.
    Sie dachte an ihren alten Hund zu Hause, der einmal Silvias Hund gewesen war und nun tags unter ihrem Schreibtisch, nachts neben ihrem Bett lag. Als sie später zum Gehen aufstanden, erhob sich auch das fremde Tier. Es war reflexhaft: Sie streichelte es.
    Hinterher dachte sie, daß sie zu ihm gesprochen haben wird (man streichelt nicht stumm einen fremden Hund). Und wohl in ihrer Muttersprache.
    Wie alt er denn sei, fragte sie nun auf Englisch. Die Frau sah sie nur an.
    Sie spricht nicht mit mir, dachte sie und erwiderte den Blick. Ihre Gesichtszüge (Antlitz, dachte sie) waren weiß und ebenmäßig. Dann kam die Antwort in harter deutscher Intonation: »Vier Jahre.«
    Sie verließen den Raum durch ein Spalier von Blicken.
    Draußen sagte die Tochter: Wir sind die Neger von Vlieland.
    Wilde Dankbarkeit für die Schönheit der Dünen. (Der Junge läßt sich über das Seegras herunterrollen. Dann liegt er mit einem Stock nach Löwen auf der Lauer.) Für den Geruch der Kiefern, das Schmatzen des Watts (hinterher müssen sie die Kleider wechseln, die Schuhe waschen. Auf der Fensterbank wächst die Sammlung an Muscheln, Steinen, Krebspanzern). Glück über das Salz in der Luft, im Gesicht. Die dicken Pferde im Wind, die eckigen Ziegen, das Pfeffer- und Salzmuster der Vögel im Watt, die flüchtenden Hasen im Sand, die Eleganz der Fasane. In den großen Steinen einer Buhne findet der Junge einen Seestern. Er fährt über die sich langsam zusammenziehenden Saugnäpfe. Er lebt doch noch, sagt er und wirft ihn weit ins Wasser zurück.
    Sie sehen ein torkelndes Holzstück in den Wellen. Es verschwindet. Taucht wieder auf. Sie glauben es nicht. Dann lachen sie und winken. Zwei knopfrunde schwarze Augen sehen ihnen unverwandt aus einem hochgereckten öligen Halskopf entgegen.
    Am dritten Tag hatte es zu regnen begonnen.
    An der Dorfstraße lag ein Antiquitätengeschäft. Hier gab es Jugendstilgläser und angeschlagene Kaffeetassen, die an 50 Jahre Befreiung von den Deutschen erinnerten, eine antike Rüstung, mehrere Schwerter, Fossilien, bunte Steine, alte Videos, CD s. Und Bücher. In einem Schrank stapelte sich der Nachlaß eines deutschen Pfarrers, der seinen Lebensabend auf der Insel verbracht hatte. Die Adress-Stempel in den Büchern wechselten, Leipzig, Frankfurt, Vlieland. Manche Bücher waren auf dem Vorsatzblatt kommentiert. (Manzoni, Die Verlobten: »Mutter hat es gerne gelesen.«) Sie kauften: Andersen, »Die kleine Seejungfrau und andere Märchen«, Paul Valéry, »Über die Kunst«, eine Dramenausgabe von Camus, einen Israelreiseführer von 1954, ein Heftchen von Karl Barth, »Wolfgang Amadeus Mozart, 1756/1956«.
    Vlieland hat gut 1000 Einwohner; im Sommer sind es 8000.
    Vielleicht wollen sie wenigstens im Winter unter sich sein, sagte sie. Dann sollen sie keine Winterangebote machen, im Internet auf deutsch, sagte die Tochter.
    Es sind nicht die selben Leute, die das entscheiden, wandte sie ein.
    Im 17. Jahrhundert gab es auf der Insel 70 Walfangkapitäne; in der Weihnachtsflut von 1717 ging Westvlieland unter. Ostvlieland prosperierte, solange die großen Segelschiffe aus Amsterdam vorbeikamen. Im 19. Jahrhundert bot ein neugebauter Kanal den modernen Dampfschiffen einen direkteren Weg ins Offene. Vorübergehend erwog man, das Eiland ganz dem Meer zu überlassen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts zeigten sich die ersten Touristen. Heute ist das Dorfbild geprägt vom Fahrradverleih. Hier gibt es auch Karten für Bootsfahrten zu den Robbenbänken oder Ausflüge in den Westen der Insel, ein Übungsgebiet des in Leeuwarden stationierten holländischen Militärs. Am Wochenende ruhen die Kampfflugzeuge und Panzer. Dann bringt ein wasser- und dünentüchtiger Laster die Touristen in die »Niederländische Sahara«. Fährt er auf dem Strand zurück, prägen seine Reifen einen Reklame-Schriftzug in den feuchten Sand.
    Abends gehen sie die Dorfstraße entlang. Hinter den vorhanglosen Scheiben der alten Kapitänshäuser liegen erleuchtete Wohnstuben, Eßzimmer. Öffentliche Raumfluchten der Intimität. Sie sehen einen Hund, der auf einem Stuhl mit am Tisch sitzt.
    Sie sind nicht vorzeitig abgefahren. Sie blieben eine Winterferienwoche lang auf Vlieland. Die Tochter ging zu streng bemessenen Öffnungszeiten in das öffentliche Schwimmbad und lernte, daß es Stunden gab, in denen man nur »banen zwemmen« durfte, ab 16 Jahren, und andere, da durfte man auch kreuz
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