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Feindesland

Feindesland

Titel: Feindesland
Autoren: Oliver Uschmann
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über uns, in der Glaskuppel drehen die Menschen ihre Runden, eine lange Schlange steht auf den Treppen an, um hineinzukommen. Am Straßenrand gegenüber sitzen Menschen vor einem kleinen Cafe. In der Ferne liegt das Bundeskanzlerinnenamt ruhig unter blauem Himmel. Auf dem Platz vor dem Reichstag allerdings, weiter hinten, beginnen Tumulte. Eine kleine Demo hat sich versammelt, sie ist augenscheinlich nicht genehmigt worden. Schnell umringen Sicherheitskräfte die vielleicht 50 Personen, ein Polizeiwagen fährt heran, in der Ferne hört man weitere Sirenen. Wir nähern uns und lesen, was auf den Schildern steht. »Aggro tut gut!«, ist dort auf die Pappe gesprüht, »Abzocken können wir uns selber!« und »Keine Steuer auf Gewalt!« Die Demonstranten sehen sehr verschieden aus. Es sind Rapper darunter, aber auch Studenten. Zwei, drei Geschäftsleute ohne Haare und mit großen Brillen und ein paar Vertreter der Piratenpartei. Eine seltsame Allianz.
    »Sie können uns gerne hier vom Platz werfen«, ruft einer der haarlosen Anzugträger, »aber das ist nur der Anfang! Wir werden gegen dieses Gesetz juristisch vorgehen. Und dann will ich das Gericht sehen, dass das für verfassungsgemäß erklärt.«
    »Ja, ja«, sagt der Polizist, der den Mann festnimmt und an uns vorbei Richtung Polizeiwagen schiebt. Er sieht uns an: »Gehören Sie auch zu der Bande?«
    »Nein, nein«, sage ich schnell, »wir sind Bedenkenträger!«
    Der Polizist mustert uns.
    »Wir haben Feierabend«, erkläre ich, »die Taschen sind sicher verwahrt.«
    Der Beamte nickt. »Sehen Sie zu, dass Sie nach Hause kommen.«
    Wir drehen uns um und entfernen uns zügig.
     
    »Irgendwie ist alles merkwürdig«, sagt Hartmut und schaut in den Himmel über Berlin, als könne der ihm die Ereignisse erklären. Ich folge seinem Blick. Eine Wolke sieht aus wie ein Marshmallow. Als wir die Augen wieder geradeaus richten, stehen Jochen und Mario vor uns.
    »Nein!«, rufen sie.
    »Nein!«, rufen wir.
    »Das gibt's ja nicht!«, sagt Jochen. »Ihr hier in Berlin? Ich dachte, ihr wärt jetzt Schwaben!«
    »Beinahe geworden«, sagt Hartmut und umarmt unseren alten Freund, während ich das Gleiche mit Mario tue. »Aber was macht ihr hier?«
    »Sind umgezogen«, sagt Jochen. »Wir haben einen Verlag gefunden. Für unser Buch über Trashfilme. Mario arbeitet jetzt hier, bei Deutschlandradio Kultur. Ein Zweijahresvertrag. Das muss man sich mal vorstellen. Ich schreibe den zweiten Teil. Wir wollen bald heiraten. Ach, ist das schön, euch zu sehen! Was machen die Mädels?«
    »Die haben Jobs gefunden. Wir sind noch auf der Suche. Ist beim Radio noch was frei?«
    Mario schüttelt den Kopf: »Oh, nein. Ich hatte Glück. Ich muss noch mit denen über das Geld diskutieren. Gehalt ist ein kleines Problem bei der Sache. Aber das bin ich ja schon gewohnt.«
    »Wo wohnt ihr?«, fragt Jochen.
    »Wedding«, sagt Hartmut.
    »Wir sind Einsteinufer, nahe der TU, zwei Steinwürfe vom Zoo.«
    »Warum da?«
    »Weil Zoo out ist, seit es den neuen Hauptbahnhof gibt«, sagt Mario.
    »Und wir lieben alles, was out ist«, sagt Jochen. Wir lachen.
    Jochen schaut rüber zu der kleinen Demonstration, die aufgelöst wird: »Wir waren nur hier, um die Demo anzuschauen. Wenn auch ohne Balkon.«
    Hartmut fragt: »Worum ging's da?«
    Jochen sagt: »Habt ihr das nicht gehört? Ging heute Morgen durch den Ticker. Die haben ein neues Gesetz verabschiedet. Die Aggressionssteuer.«
    Mario sagt: »Man munkelt, das sei erst der Anfang von was Größerem. Einer ganzen Reihe von Gesetzen, die kommen sollen. Sie machen jetzt ernst.«
    »Sie wollen alles streng besteuern, was blutig ist. Actionfilme, Killerspiele, HipHop-Platten. Es wird auf die Mehrwertsteuer aufgeschlagen. 31 % statt 19 %. Das geht in enger Zusammenarbeit mit der Bundesprüfstelle. Die bewertet einen Film ab 18, zack, 31 %. Es wurde eine neue Behörde eingerichtet. Das Ministerium für moralische Fragen. Sie bekommen viel Zustimmung seitens der Familien und der Pädagogen.«
    »Und was ist mit Kleist?«, fragt Hartmut.
    »Kleist?«
    »Ja, Kleist. Bei >Penthesilea< metzeln die Amazonen die Männer dahin. Im >Erdbeben von Chili< pfeffert einer ein unehelich gezeugtes Baby vor eine Mauer, so dass es zerschmettert. Wird Kleist jetzt auch höher besteuert? Oder Shakespeare? Mein Gott, wie viel Blut fließt bei dem!«
    »Kleist und Shakespeare sind Kultur«, sagt Jochen, »da machen sie Ausnahmen. Deswegen haben sie diese Behörde ja gegründet. Sie
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