Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Falkengrund, Schule des Okkulten - Episode 8 Exquisite Corpse

Falkengrund, Schule des Okkulten - Episode 8 Exquisite Corpse

Titel: Falkengrund, Schule des Okkulten - Episode 8 Exquisite Corpse
Autoren: Martin Clauß
Vom Netzwerk:
Seine übergroße Kleidung hing wie ein weißer Sack an ihm, dunkle, leere Augenhöhlen starrten sie an. Sie konnte nichts tun, nicht schreien, nicht fliehen, sich nicht zur Wehr setzen. Sie konnte nur zusehen, wie das Geschöpf ins Zimmer stolperte und ihr immer näher kam.
    „Kleiner Tod, großer ... Tod“, hauchte der Eindringling, und seine Stimme klang wie ein Windstoß, der durch kilometerlange staubige Gewölbe blies. Der Totenschädel drehte sich auf dem sich auflösenden Leib, dann ruckte er in den Nacken, und es sah beinahe so aus, als würde der Unheimliche ...
    ... schnuppern.
    Er näherte sich dem Bett, riss die Decke zur Seite und schnüffelte an dem Kaffeefleck.
    „Ex-qui-sit“, sagte er gedehnt.
    Zum ersten Mal fand Estrella ihre Sprache wieder. „Exquisit! Está ahí!“ Sie deutete auf einen kleinen Kühlschrank, der in die Bar integriert war. Das Monstrum humpelte darauf zu, öffnete die Tür, griff drei, vier der Dosen, stellte sie auf die Ablage und riss die Verschlüsse auf, einen nach dem anderen. Dann goss es sich den Kaffee in die Kehle.
    Estrella zuckte nervös mit dem Kopf, während sie das unglaubliche Schauspiel verfolgte. Die Knochen begannen zu kochen und zu brodeln, Haut und Fleisch wuchs aus dem Körper hervor, und binnen einer halben Minute war aus dem Skelettierten ein gewöhnlicher Mensch geworden. All das sah sie nur deshalb in dieser gnadenlosen Deutlichkeit, weil die Tür des Kühlschranks offen stand.
    Plötzlich erhielt das Mädchen einen brutalen Stoß in den Rücken und flog auf den Eindringling zu! Dieser fing die unbekleidete Schöne auf und hielt sie mit einer Hand fest, als sie ohnmächtig zu Boden zu sinken drohte. Mit der anderen schüttete er sich einen weiteren Dosenkaffee in den Mund. Ein lässiger Tritt, und Hans hatte die Tür des Kühlschranks geschlossen. Dunkelheit fiel auf die Szene.
    Estrella hatte direkt an der Tür gestanden, die sich nach innen öffnete. Und als Charlie herabeilte und die Tür mit voller Wucht aufschleuderte, erhielt das Mädchen einen heftigen Schlag.
    Charlie sah in der Dunkelheit zunächst nicht viel. Er suchte den Lichtschalter – und starb beinahe vor Schreck, als das Licht aufflammte und er den Besucher erkannte.
    Hans Colm, sein Bruder, den er vor zwei Jahren getötet hatte, stand vor ihm. Er trug eine seltsame weiße Kluft, wie sie die Pfleger in den Krankenhäusern anhatten, und an seinem Arm hing reglos und schlaff der Körper seiner Estrella. Im ersten Moment dachte er, sie sei tot.
    „Keine Sorge“, sagte Hans. Seine Stimme klang noch ein wenig heiser, war aber deutlich zu verstehen. „Sie ist nur ohnmächtig geworden. Auch die Ohnmacht ist ein kleiner Tod, Charlie. Es gibt viele kleine Tode. Sagen wir, ich hatte ebenfalls einen kleinen Tod, einverstanden? Wir wollen vergessen, dass es ein großer Tod war. Charlie? Freust du dich nicht, mich wiederzusehen?“
    Charlie konnte nichts erwidern. Er hätte nicht sagen können, was ihn mehr befremdete: der von den Toten auferstandene Hans, die nackte Estrella an seinem Arm, oder die Dose Colm’s Kaffee Exquisit in seiner Hand.
    „Unser Kaffee ist gut“, bemerkte Hans. Ihm musste aufgefallen sein, wie Charlie die Dose angestarrt hatte. „Ehrlich gesagt bin ich ganz wild darauf. Dieser Duft – wenn er nicht gewesen wäre ...“ Plötzlich wurde die entspannte Miene von Hans ernst. „Ich brauche mehr von diesem Kaffee, Charlie, viel, viel mehr.“ Er klang jetzt wie ein ganz normaler Junkie.
    „Ja? Ich ... ich habe noch welchen draußen im Wagen“, hörte Charlie sich sagen. „Der Lieferwagen, du weißt doch. Das Auto, in dem wir“ deine Leiche abtransportiert haben „immer den Kaffee ausgefahren haben.“
    „Wie viele Dosen?“
    „Wie viele? Zwei ... zweihundert ungefähr ...“
    „Führ mich hin!“ Hans Colm legte die Frau auf das Bett. Er würdigte sie keines Blickes.

11
    Als Charlie Colm den Lieferwagen durch die Nacht steuerte, war er ganz ruhig. Eine unnatürliche Gelassenheit hatte von ihm Besitz ergriffen, eine vollkommene Resignation. Er sah jetzt ein, dass es keinen Sinn machte, sich dagegen aufzulehnen. Er ergab sich ganz und gar in sein Schicksal.
    Hans befand sich im hinteren Wagenteil. Bei dem Kaffee. In den ersten zehn Minuten der Fahrt hatte Charlie verbissen darüber nachgedacht, wie er ihn ein zweites Mal loswerden, ein zweites Mal töten konnte. Er dachte darüber nach, den Wagen in eine Schlucht zu fahren, selbst im letzten Moment
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher