Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Falkengrund Nr. 34

Falkengrund Nr. 34

Titel: Falkengrund Nr. 34
Autoren: Martin Clauß
Vom Netzwerk:
Sir Darren Edgar reiste durch die Zeit.
    Er reiste durch die Zeit, wie dies jeder andere Mensch auch tat: indem er lebte und dabei einen Tag nach dem anderen durchlief, vom Morgen zum Abend, vom Abend zum nächsten Morgen. Doch in einem Punkt unterschied sich seine Situation von der aller anderen. Er alterte nicht.
    Seit er sich selbst mit einem aberwitzigen Plan ins Jahr 1798 manövriert hatte, befand er sich außerhalb seiner gewöhnlichen Lebenszeit. Er nahm an, dass er erst wieder älter werden würde, sobald er im 21. Jahrhundert anlangte, von wo aus er gestartet war. Dass sein Organismus keinem Alterungsprozess unterworfen war, bedeutete aber nicht, dass er auf Unverwundbarkeit oder gar Unsterblichkeit bauen durfte. Kurze Zeit über war er ein Geist gewesen, dem nichts Irdisches etwas anhaben konnte, doch dieser Zustand gehörte der Vergangenheit an. Mehr als einmal in den letzten hundert Jahren war er ernsthaft krank geworden, hatte den Atem des Todes schon in seinem Nacken gespürt.
    Während Sir Darren, die Koryphäe auf dem Gebiet des Spiritismus, in den Schatten der Geschichte umherhuschte und interessiert den Lauf der Welt beobachtete, ohne darin einzugreifen, tat er noch etwas anderes.
    Er spürte literarischen Figuren nach.
    Für einen Außenstehenden war es schwer nachzuvollziehen, zu welchem Zweck er Stätten aufsuchte, die in bekannten Romanen, Erzählungen, Dramen und Gedichten eine Rolle gespielt hatten, weshalb er nach Personen forschte, die ihr Dasein nur auf den vergilbten Seiten der alten Klassiker fristeten.
    Es hing mit seinem großen Abenteuer zusammen. Seine Reise zurück in der Zeit bis zum Ende des 18. Jahrhunderts war mit unwirklichen Erlebnissen verknüpft gewesen, die ihn in die Gesellschaft von Menschen und Orten geführt hatten, welche er aus der phantastischen Literatur kannte. Eine Erzählung von Poe war für ihn zur greifbaren Realität geworden, ebenso die Legende vom Fliegenden Holländer und die bizarre Ballade des alten Seemanns aus der Feder des Dichters Coleridge. Wenn er darüber nachsann, wie so etwas möglich war, drohte sich sein Verstand zu verfinstern, zumal er das alles seinerzeit selbst in die Wege geleitet hatte. Vielleicht, so sagte er sich, waren diese Dinge keine Einzelfälle. Vielleicht warteten noch weitere Elemente aus der Fiktion der Menschen darauf, in die Wirklichkeit transponiert zu werden. Und falls dem so war, begann er besser frühzeitig mit den Nachforschungen.
    Bislang war seine Suche erfolglos geblieben. Er hatte einige wilde Versuche gestartet, hatte Rider Haggards Abenteuerhelden Allan Quatermain aufzuspüren versucht, jedoch nirgends Hinweise gefunden, dass er jemals existiert hatte. Genauso erging es ihm mit Charles Dickens’ David Copperfield und mit Stevensons Dr. Jekyll – diese illustren Herren waren und blieben fiktive Gestalten, die in der Realität keine Spuren hinterlassen hatten. Besonderes Interesse entwickelte er für Oscar Wildes Dorian Grey, den Helden des gleichnamigen phantastischen Romans. In diesem Werk war es um Unsterblichkeit gegangen, ein Thema, das ihn verständlicherweise beschäftigte. Wochenlang zog er Erkundigungen ein, doch auch Greys Heimat blieben die Bücher.
    Da er schon in London weilte, stattete er der Baker Street einen kurzen Besuch ab, um Hinweise auf eine mögliche Existenz des Meisterdetektivs Sherlock Holmes zu finden. Weder von ihm noch von seinem Sidekick Dr. Watson gab es eine Spur. Die Hausnummer 221, unter der Holmes in den Romanen logiert hatte, existierte überhaupt nicht.
    Als er die Baker Street hinter sich ließ und mit dem Gedanken jonglierte, die absurde Suche nach Bücherfiguren allmählich aufzugeben, fiel ihm der Name eines Romanhelden ein, dessen Abenteuer er stets mit großer beruflicher Faszination verschlungen hatte. Der Mann hieß Carnacki und war seines Zeichens so etwas wie ein okkulter Detektiv, ein Forscher und Ermittler in Spukangelegenheiten. Er agierte in neun Erzählungen, verfasst von William Hope Hodgson. Hodgson war nicht einfach nur ein phantasievoller Schreiberling gewesen, er beschäftigte sich auch ernsthaft mit Fragen des Spiritismus und galt in seiner Zeit als Autorität in Sachen Geisterfotografie. Vermutlich wäre es für Sir Darren ein Leichtes gewesen, Hodgson selbst aufzutun – der Mann würde erst in acht Jahren gegen Ende des ersten Weltkriegs von einer deutschen Granate getroffen und getötet werden.
    Aber Sir Darren verzichtete darauf, Hodgson zu treffen,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher