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Export A

Export A

Titel: Export A
Autoren: Lisa Kränzler
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interessiert, der Beta-Tisch zur langweiligen Gewohnheit geworden ist, und ich nach Höherem bzw. Aufregenderem strebe.
    Hier ziehen Nebel auf. Die Tage zwischen den Ereignissen werden zu flüchtigen Schatten, die hinter Milchglasscheiben vorbeihuschen. An einem Dezembermorgen klart es auf. Freie Sicht auf die nächste Szene.
    Ich sehe mich in der Turnhalle, beim Schul-Bingo-Turnier, eine der peinlichen Lächerlichkeiten, die die Highschool zum Amüsement der Schüler veranstaltet. Umringt von einer Reihe Alpha-Tisch-Leuten und einigen mir unbekannten Gesichtern, die sich nur dann blicken lassen, wenn die Hälfte des Schultags Bingo gespielt wird, sitze ich auf einem Plastikstuhl. Von der Seite rückt mir ein Junge mit einer beeindruckenden Masse schwarzer Haare, in denen ein kleiner Kamm steckt, auf die Pelle. Er heißt Sam. Die Gedanken, die er unter seinem wirren Haarschopf zusammenspinnt, wie auch sein sonstiges Erscheinungsbild sind ziemlich eigenwillig und unterhaltsam. Wir verstehen uns glänzend.
    Ich berichte, nicht ohne Stolz, von meinem Rausschmiss und meiner Suche nach einer neuen Bleibe, woraufhin mir Sam von einem Freund namens Josh erzählt der, frisch bei den Eltern rausgeflogen, gerade dabei sei, eine Reihenhaushälfte zu beziehen, und Mitbewohner suche.
    JACKPOT , denkt es in mir.
    Am selben Abend steige ich in Sams schrottreifen, nackt­schnecken­ farbenen Cadillac und lasse mich hincha u ffieren . Von der Fir Street bis in die Centennial, vom gelben, freistehenden Eckhaus bis zu dem mintgrünen Reihenhaus, das sich am Fuße einer steil bergauf führenden Einfahrt in eine Mulde kauert, von meinem Zimmer zu Joshs Zimmer sind es knapp drei Kilometer.
    Wir rutschen den Driveway runter, parken im Tiefschnee, verdrängen die Gedanken an das Steckenbleiben, Ausbuddeln und ­Anschieben, das uns später mit Sicherheit bevorstehen wird, und klingeln.
    Ich glaube, es waren Leute da. Besucher, Bestauner, Bewerber, unbekannte Gesichter. Unmöglich zu sagen, wer die Tür öffnete und uns einließ ins Mintgrüne, von dem ich schon beim Übertreten der Schwelle wusste, dass ich es als neues Zuhause wollte – und zwar unbedingt!
    Wenige Augenblicke später muss ich Josh kennengelernt haben. Bestimmt saßen wir in seinem Zimmer, mit Sicherheit rauchten er und Sam den ein oder anderen Joint, beschwören oder beschreiben kann ich es nicht. Das Erinnern wird wieder schwierig, die Vorkommnisse lassen sich nicht passend zusammenfügen, nicht aus­einander­halten, kleben aneinander wie nasse Buchseiten, aus denen mein unvorsichtiges Nachdenken Fetzen reißt. Es bleiben lückenhafte Unterhaltungen, undeutliche Laute, die einmal der Verständigung dienten an Orten, deren Namen sich aus dem Speicher der oberen Erinnerungsschichten gelöst haben. Das Gefühlschaos überforderte damals meinen inneren Geschichtsschreiber; heute falte ich längst Vergilbtes auseinander und arbeite mich durch einen wirren Papierwust auf der Suche nach Schlüsselworten.
    Ich stoße auf wilde Entschlossenheit und den Vorsatz, Josh, Schwester, Schwager und Eltern zu überzeugen. Das mintgrüne Haus schmeckte aufregend, frisch und verboten, nach Abenteuer und Freiheit und Erwachsensein, versprach Stärke, Unabhängigkeit und Coolness. Ich wollte nicht länger hilflos im Braunen sitzen, wollte die Dinge selbst in die Hand und die Risiken auf mich nehmen, mich endlich freiwillig in Gefahr begeben, anstatt wie bislang willenlos irgendwo hineinzugeraten.
    Die Erinnerung an den ersten Abend, die erste Begegnung mit Josh, dem ich wahrscheinlich schon als Sams zukünftiges girlfriend vorgestellt worden war, muss an dem massiven, zehnjährigen Zeitblock zerschellt und untergegangen sein. Oder ich habe ihn nicht wirklich, nicht bewusst gesehen ⁠… Bereits wenige Tage später, als ich mit Schwester und Schwager anrückte, um die Details meines Einzugs zu klären, ergab sich wieder eine Begegnung. In der Befürchtung, dass mir meine Schwester oder Josh doch noch mit einem plötzlichen Rückzieher einen Strich durch die Rechnung machen könnten, drängte ich darauf, die Miethöhe sofort zu klären und den Pakt zu besiegeln.
    Ich habe vor Augen, wie er während der Verhandlungen auf seinem Skateboard steht und Haifischkreise durch das leere, möbelfreie Wohnzimmer zieht, wie er unter den besorgten Blicken meiner Verwandten abwechselnd Bug und Heck des Boards anhebt, indem er das Gewicht auf die andere Seite verlagert. Schlacksig, jungenhaft und unfassbar
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