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Export A

Export A

Titel: Export A
Autoren: Lisa Kränzler
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genug. Es reicht nicht aus, dieses »Erinnern«.
    Mein Geist greift ins Leere, bekommt nur selten etwas zu fassen; dann schnappt er zu, krallt sich fest und betastet vorsichtig das Stückchen Vergangenheit, das ihm das Synapsengewimmel überlassen hat.
    Was davon kann ich ausdrücken? Was schlägt durch bis in die Fingerspitzen, bis in die Tasten, bis in den Text?
    Es ist zu wenig, bleibt beim bewussten »Ich«, dieser voreiligen Konstruktion mit dem beschränkten Blick, dem Hang zur Realitätsverzerrung, dem Willen zum Mythos.
    Ich bemerke, dass ich mir die Geschichte schon längst zurechtgelegt habe. Aus den Trümmern der Ereignisse, aus Daten und Fakten erwächst eine Pyramide, deren Wände die Stationen meiner Wandlung in einer idealisierenden Bilderschrift schmücken, von mir eigens erdacht für den feierlichen und sentimentalen Rückblick.
    Wie breche ich den Bann der Trugbilder?
    Kein Denkmalschutz mehr für das alte Selbstkonzept! Ich will sehen. Ich will mich erinnern.
    Wer weint da im Norden?
    Es weint ein 16-jähriger, weiblicher Körper mit unregelmäßiger Menses, der bei seiner letzten sportärztlichen Untersuchung 170 cm groß und 55 kg schwer war. Der Körper mit den dunkelsten Augen und Haaren der Familie, einer linkskonvexen BWS- Skoliose, Becken schiefstand (links) und einem um 0,6 cm verkürzten rechten Bein (aufgrund von Beschwerdefreiheit wurde auf einen Höhenausgleich der Beinlängendifferenz verzichtet).
    Ein Mädchenkörper, der bislang von Kinderkrankheiten, schweren Erkrankungen, Verletzungen und Operationen verschont geblieben ist. Keine Allergien, keine Medikation.
    In Trainingsjahren gerechnet ist dieser Organismus, der an sechs Trainingseinheiten mit etwa zwölf Stunden pro Woche gewöhnt ist, erst fünf Jahre alt. Die Laborwerte zeigten erhöhtes Kreatinin an, was auf die Trainingsbelastung zurückgeführt werden konnte. Die Belastungen sind heute andere. Das Schluchzen, das Nachluftringen trotz normaler Atemvolumina, hält an. Es ist keine Bodyplethys mografie nötig; erhöhte Atemwegswiderstände sind nicht der Grund für diese Kurzatmigkeit. Auch am Herz kann es nicht liegen. Das Pumporgan hinter der hektisch auf- und niedergehenden Brust weist keine regionalen Wandbewegungsstörungen auf; die Herz­höhlen sind normal groß, die Klappen zart.
    Der Körper, dieser weinende Körper hier im Norden, der sich zusammenfaltet, krümmt und kapituliert, bricht nicht aufgrund muskulärer Erschöpfung zusammen. Ausgeschlossen! Schließlich hat sich seine Laktat-Leistungskurve während der letzten Jahre kontinuierlich im Sinne einer Leistungsverbesserung nach rechts verschoben und die Belastungsergometrie zeigt ausgezeichnete Ausdauerleistungsfähigkeit ⁠… Das zusammengerollte Ding auf dem braunen Teppich ist voll sport- und wettkampftauglich. Es liegt da und weint.
    Weint und wird doch den Druck nicht los. Die Energien fließen weiter in Beine, denen es an Auslauf mangelt, sie stauen und türmen sich auf bis unter die Schädeldecke, treiben die Rädchen im Kopf an wie wildgewordene Hamster.
    Rückblickend wird deutlich, dass jeder präkanadische Zug auf dem 16-Jahre-großen Spielbrett meines Lebens nur Vorgeplänkel war, ein langsames, spielerisches Heranführen an die plötzlich einsetzende Geschwindigkeit, an die mörderische Beschleunigung, die Whitehorse mit sich brachte. Ohne jede Vorwarnung brach eine neue Zeit an, die Regeln änderten sich, jeder Atemzug ein Spielzug gegen fremde, undurchsichtige Gegner. Die beruhigende Vorhersehbarkeit von Handlungen und Ereignissen erwies sich als Illusion, gleich einem Schlafmohntraum, mit dessen Hilfe meine besorgten Eltern mich eine ganze Kindheit lang behüteten. Kalter Norden, kalter Entzug, das war nicht Teil des Plans gewesen. Die neuen Belastungen erwuchsen aus der Ausweglosigkeit, der Sinnfrage, den undurchschaubaren sozialen Beziehungen, aus Einsamkeit, Isolation und Adrenalinstößen.
    Das Eltern-Ich, das alte Selbstkonzept, bleibt zurück, kann das neue Tempo, die blitzschnelle, fehleranfällige Verarbeitung meiner Lebendigkeit nicht mitgehen, tritt lahm auf der Stelle, während tausenderlei Informationen auf Abkürzungen in mich hineinrasen und eine Reaktion nach der anderen auslösen. Mit hängenden Schultern, die Hände in den Hosentaschen steht es da, das dreiköpfige Vater-Mutter-Kind-Mischwesen, auf seinem Namensschildchen ist »Denkendes Ich. Qualitätssicherungssystem« zu lesen; die Veränderungen verdammen es zur
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