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Exodus

Exodus

Titel: Exodus
Autoren: DJ Stalingrad
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war er hundertprozentig reif. Solche Leute
lieben das Leben, sie freuen sich an jedem Moment, doch sie sind
immer als Erste reif, es zu verlieren. Sie lieben ein schönes
Leben und hohe Einsätze.
    »Gestern
komme ich nach Hause, meine Mutter ist mit den Nerven am Ende, hat
über meinem Sofa eine Ikone aufgehängt und nimmt
Medikamente. Sagt, sie war bei einer Wahrsagerin, die mein Foto
angeschaut und gefragt hat: ›Lebt dieser Mensch noch? Er wird
keines natürlichen Todes sterben, er wird sehr bald getötet
werden, wenn er nicht schon getötet wurde.‹ Ich habe dann
die ganze Nacht geträumt, wie man mich absticht und absticht,
und bin schweißgebadet aufgewacht. Aber was willst du machen,
klar, solche wie wir sterben keines natürlichen Todes.«
    Das
hatte Fedja mir vor ungefähr drei Jahren erzählt. Später,
schon nach seinem Tod, sagte mir seine Mutter, dass sie nicht nur
einmal bei der Wahrsagerin gewesen sei, sondern viermal, und jedes
Mal habe die sich gewundert, dass der Mensch auf dem Foto noch lebt,
sie hatte einen gewaltsamen Tod binnen kürzester Zeit
vorausgesagt. Also, Fedja war reif. Aber er wollte überhaupt
nicht.
    ***

Tja,
das kommt vor. Er war schon ins Bett gegangen, da ruft jemand an –
wie so oft, nichts Neues. Er nimmt sein ganzes Geld, Messer, Knarre,
geht aus dem Haus. An der Tür dreht er sich um, sieht, wie sich
seine Mutter in der Küche Valium in ein Glas tropft. Sie hat
wieder gelauscht. Er setzt sich auf sein Moped, fährt um drei
Uhr nachts ins Zentrum, um die Jungs, all diese Bengel, die noch
nicht mal zwanzig sind, aus der soundsovielten ausweglosen Situation
rauszuholen, in der sie sterben oder hinter Gitter kommen können.
Heute, wie schon letzten Monat, letztes Jahr, immer. Er hat das immer
gemacht. Ist immer als Erster gekommen, hat aufgemuntert, Bullen
angebrüllt, Geld zugesteckt, die richtigen Leute angerufen,
vermittelt, stundenlang vor Polizeiwachen in ganz Moskau
rumgestanden. So hat dieser Mensch gelebt. Ein anderes Leben hatte er
nicht. Hatte er echt nicht. Sein Leben lang bettelarm, in einer
mickrigen Wohnung mit seiner Mama, der Familie seiner Schwester, in
einem Zimmer so groß wie eine Badewanne. Sein Leben lang Arbeit
in irgendwelchen Warenlagern, Fabriken, in dreckigen Kneipen,
schlechter Alk, schlechtes Leben. Viele Jahre. Er hatte nichts außer
Freunde, außer all jenen, die um ihn waren und denen er sich
immer ganz hingab, aus irgendeinem Grund ganz und gar. Ihnen glauben,
ihnen vertrauen, mit ihren Problemen leben, in ihnen leben –
das war das, was er konnte. Sonst war da nicht viel. Solche Leute
gibt es jetzt nicht mehr. Sich selbst vergessen und völlig in
den Sorgen und Freuden deiner Nächsten aufgehen, im Glück
und im Leid ... was denn sonst ... Auch damals kam er, wer weiß
warum. Alles war längst vorbei. Vor dem Klub wurde er von Bullen
begrüßt, die mit einer halbstündigen Verspätung
aufgekreuzt waren, sie fanden das Messer, die Knarre. Alles nach
Drehbuch. Wieder wurde er als Einziger verhaftet, wie schon so oft,
einfach weil er als letzter daran dachte, seine eigene Haut zu
retten. Irgendwie hat er daran fast nie gedacht. Immer geschlagen,
immer der Erste, der austeilt und eine reinkriegt. Wie denn sonst?
Anders konnte er nicht. Die Mutter sagt: »Schon mit vier habe
ich ihn immer angeschaut und war derartig ergriffen von Trauer und
unfassbarem Mitleid für diesen Jungen, aus heiterem Himmel
überfiel mich Mitgefühl für das Leiden, das er sein
ganzes Leben lang würde erfahren müssen.« Er hat
immer gelitten, bis zum Ende, und starb in Qualen. Die Mörder
fügten ihm keine tödliche Verletzung zu, sie stachen
einfach brutal auf ihn ein, Gesicht, Brust, Rücken, Hände,
Arme. Er war die ganze Zeit bei Bewusstsein und schrie, bat darum,
den Rettungswagen zu rufen, wälzte sich auf dem Boden,
versuchte, den schrecklichen Schmerz auszuhalten, der seinen ganzen
Körper zerriss. Mutter, Schwester und die sich versammelnden
Nachbarn aus dem ganzen Haus konnten ihm nicht helfen, solange er
schrie und sich mit letzten Kräften ans Leben klammerte. Der
Rettungswagen kam nach fünfunddreißig Minuten, er war bis
zum Schluss bei Bewusstsein, erlebte unmenschliches Leid. Wenn es
eine Hölle gibt, dann erlitt er entsprechende Qualen am
lebendigen Leib. Ich weiß es nicht genau, aber ich glaube, er
hat in seinem kurzen Leben vielen Leuten ziemliche Schmerzen
zugefügt. Doch mir persönlich bleibt er im Grunde nur mit
der Fürsorge in Erinnerung, die
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