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Exodus

Exodus

Titel: Exodus
Autoren: DJ Stalingrad
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stand direkt in der Menge.
In einem furchtbaren Gedränge und Mief sah ich zwischen den
Menschen hindurch, wie ein muskulöser Kerl mit freiem Oberkörper
aus voller Kehle ins Mikro brüllt und sich mit dem Mikrofonkabel
stranguliert. Er ist knallrot, aber weder vor Hitze noch vor
Anspannung noch davon, dass er sich aus Scherz stranguliert. Auf der
Schulter hat er ein blaues Tattoo – ein buddhistisches
Dharma-Rad, das Rad deines Lebens. Ich dachte damals, dass das
wahrscheinlich ein echt korrekter Typ ist.
    Rund
zwei Jahre später war er wieder in Moskau und ich lud ihn mitten
in der Nacht zu einer Aktion ein, weil ich dachte, dass es bestimmt
lustig wird. Es war schon gegen eins, als wir uns in der Metro
trafen. Die Marmorsäulen führten uns in die heiligen
Gemächer der Gewalt. Der Zug fuhr ein, ich renne in den Waggon
und treffe auf die fassungslosen Gesichter der Leute, die hilflos am
anderen Ende des Wagens sitzen. »Guten Abend, hier sind wir!«,
schaffe ich gerade noch, sie zu begrüßen, als sich
ungefähr zehn Leute auf sie stürzen. Im Chaos vergesse ich,
dass ich einen Gipsarm habe, und denke erst wieder daran, als er
zerbrochen ist. »Ihr Or-tho-do-xen!«, schreit ein Skin
und zerschlägt eine Bierflasche voll Pisse auf dem Kopf des
Sängers einer bekannten Band. Den Musikern haben sie die
Instrumente abgenommen, die anderen einfach zusammengeschlagen.
Ljoscha hat das nicht gefallen – Gedränge, Chaos, er
schaffte es gerade mal, einem eins in die Fresse zu geben. Übrigens
war er früher mal Jiu-Jitsu-Meister im Wolgograder Gebiet.
    Ljoscha
ist ein Russischer Soldat. Wahrscheinlich sogar ein Roter Kämpfer.
    An
den abgewetzten Holzwänden hängen Teppiche, Balalaikas,
sowjetische Plakate, eine Piloten- und eine Bullenuniform, eine
Pelzmütze mit Ohrenklappen, auf dem Boden verteilt liegen
Papirossipackungen Prima Nostalgija und Wodkaflaschen Boris
Jelzin . Das Grammophon spielt Foxtrott, wir heizen den Ofen,
kochen uns was, trinken verdünnten estnischen Sprit und Tschifir aus kantigen Gläsern in Teeglashaltern. Dann grölen wir
betrunken Durch wilde Steppen in Sabajkal – Po dikim stepjam
Sabajkalja und Wot sishu opjat v tjurme! – Nun sitz ich
wieder im Gefängnis , slawische Gangstersongs, Russian Style.
Ljoscha hat Russland vor vielen Jahren verlassen, geheiratet, sich
scheiden lassen, Regie studiert, einen gottesfeindlichen Spielfilm
gedreht, als Lenin im Leninmuseum gearbeitet, als Dolmetscher in
einer Waggonfabrik, war Fußballfan der armseligen lokalen
Fußballmannschaft, sang Räuberlieder und Romanzen in einer
hiesigen Retro-Foxtrott-Band. Vor hundert Jahren wirtschaftete an
diesem Herd hier eine anständige Familienmutter, die Frau eines
Arbeiters der Stahlgießerei. Jetzt hängen zwei Immigranten
auf selbst gezimmerten Pritschen vor ihrem Ofen herum, und aus dem
alten Grammophon, das sie hinterlassen hat, grölt es lauthals Äpfelchen – Jablotschka und Öffne uns halb
das große Tor, du schöne Suomi – Raskrywaj nam
Suomi-krasawiza polowinki schirokich worot!
    An
jenen kalten endlosen Abenden, hunderte Kilometer von zu Hause
entfernt, dachte ich, dass das kein schlechtes Ende eines guten
Abenteuerbuches wäre. Wir besuchten eine uralte russische Banja
in der Nachbarschaft, ein Gebäude aus der Zarenzeit, der
Besitzer heizte nach Ende der Öffnungszeit nachts ordentlich
ein. Wir soffen mit ihm, brachten Mädels mit, kloppten uns im
Rausch, tranken Wodka und spielten Bandoneon. Ich lag im Dampfbad auf
der Pritsche, war betrunken, hingegossen auf Frauenkörper und
dachte: Wahrscheinlich bin ich gestorben.
    Bis
zu dem Monat, als ich abgehauen bin, hatte ich mehr als drei Jahre
nicht getrunken. Ljoscha hatte, bevor er Russland verließ, fünf
Jahre nicht getrunken.
    »Hier
ist alles anders. Sehr langweilig. Du musst trinken, sonst kannst du
dich gleich umbringen.«
    »Rundum
nur hilflose Hippies, übergeschnappte Spießerkinder, und
alles, was sie veranstalten, sind irgendwelche idiotischen
Mädchenspiele: ihre ganze Kunst, ihre Lebensart, ihre Werte, ihr
Aktivismus. Weißt du noch, wie die Mädchen früher Kleines Geheimnis spielten? Da gräbt man ein kleines Loch
in den Boden, legt Perlen oder Bonbonpapier hinein, schüttet es
mit Erde zu und legt eine Glasscherbe rauf. Überall hatten sie
solche Verstecke und zeigten sie dann ganz heimlich ­ihren
besten Freundinnen. Tja, ich schaue mich um, und alles, was diese
Idioten, Hirnis, Milchbubi-Studenten zustande bringen, sind
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