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Es war einmal oder nicht: Afghanische Kinder und ihre Welt (German Edition)

Es war einmal oder nicht: Afghanische Kinder und ihre Welt (German Edition)

Titel: Es war einmal oder nicht: Afghanische Kinder und ihre Welt (German Edition)
Autoren: Roger Willemsen
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Hockey mit zwei Stöcken), Ghursei (ein Spiel, bei dem zwei Jungen auf jeweils einem Bein hüpfend versuchen, sich wechselseitig aus dem Gleichgewicht zu bringen). Wenn die Erwachsenen mit den Kindern während der langen dunklen Wintermonate am Ofen sitzen, unterhalten sie sich mit Rätselspielen, zum Beispiel: »Was läuft den ganzen Tag mit geschlossenem Mund herum und steht abends mit offenem Mund?« Antwort: »Die Schuhe.«
    Das Kinderspielzeug aber, das aus Pakistan und China importiert wird, besteht vor allem aus Plastikwaffen, die akustische Signale abgeben und einen Laserstrahl verschießen können. Hier handelt es sich im Wesentlichen um Kriegsspielzeug, mit dem die kleinen Jungen im freien Feld und in den Ruinen, sogar vor Kinoleinwänden das Gesehene nachstellen. Ich habe Derartiges verschiedentlich in den Kinos von Kabul und Kunduz beobachtet, wo kleine Jungen die Kampfhandlungen oder das Erscheinen von Frauen auf der Leinwand mit Salven von Laserfeuer beantworteten.
    Am stärksten wirkten solche Reflexe immer gegenüber der Gewalt und dem Eros. Über das Innenleben der Kinder verraten sie nichts Genaues, werden doch so allenfalls Impulse frei. Deshalb habe ich in den letzten sieben Jahren, gemeinsam mit den Mitarbeiterinnen des Afghanischen Frauenvereins e.V., den Kindern Schreib- und Malaufgaben gestellt. Geradezu begierig begannen sie nun, ihr Leben und ihre Vorstellung von unserem Leben, ihre Begegnung mit dem Krieg, ihren Alltag, ihre familiäre Situation, ihre Ideale zu schildern, um ihrem Blick auf die Welt eigenen Ausdruck zu verleihen.
    Manchmal haben sie dabei die eigene Welt und die unsere gespiegelt und sie auf den zwei Hälften eines Blattes einander gegenübergestellt. Ein andermal haben sie, so detailliert sie konnten, erinnerte Szenen geradezu objektiviert, um nicht mehr von ihnen besetzt zu sein. Dann wieder haben sie freie Räume der Phantasie ausgemalt, in denen die Proportionen verschoben waren und die florale Ornamentik überbordend wucherte. Schließlich haben sie die geretteten Idyllen der Kinderspiele und Picknicks, der häuslichen Szenen und des Schulalltags ausgemalt. Dort scheint der Krieg fern. Unvergesslich die Konzentration in den Gesichtern, als sich die Kinder über ihre Arbeiten beugten, geleitet von inneren Bildern und manchmal mit der Zunge zwischen den Lippen die einzig richtige Form suchend.
    Um einige der Zeichnerinnen und Briefeschreiber wiederzusehen, anderen erstmalig zu begegnen und sie auch in ihrem Schulunterricht zu erleben, machte ich mich im Herbst 2012 zum dritten Mal auf, um das zivile Afghanistan zu bereisen. Es sei zu unsicher, hieß es. Kabul dürfte ich wohl kaum verlassen. Doch wünschte ich mir, Schulklassen zu besuchen, ins Pandschir-Tal zu reisen, vielleicht bis zum Grab des legendären Führers der Nord-Allianz Massoud.

    »Die Sicherheitslage«, hieß es schulterzuckend. Flug und Hotel wurden storniert. Selbstmordattentäter in Kabul, die »Frühjahrsoffensive der Taliban« drohe. »Die Sicherheitslage«, hieß es Monate später, kurz vor dem nächsten Versuch. Ohne weitere Erklärung. Mein Visum verfiel, US-Soldaten hatten den Koran verbrannt. Aufstände gegen Ausländer waren zu befürchten. »Die Sicherheitslage« ist der Grund dafür, dass westliche Politiker in Kabul ihre Hotelzimmer nur verlassen, um im gepanzerten Wagen in ein Ministerium zu fahren und wieder zurück, ohne je das nicht-militärische Afghanistan berührt zu haben. »Die Sicherheitslage« ist der Grund dafür, dass sich die prominenten Truppen-Unterhalter aus dem Showgeschäft mit einer Besichtigung des Landes unter Bundeswehr-Perspektive begnügen. Afghanistan wird dabei unsichtbar. Das zivile Land bindet kein Interesse mehr. Ungestört aber lässt sich in einem Land Krieg nur führen, wenn die Anschauung fehlt.
    Doch dann erlebe ich ihn doch wieder, den Anflug auf Kabul: Eiswüsten gehen in Wüsten über. Scharfkantige Felsgiebel erheben sich über der zusammengeschobenen Gesteinsmasse. In der gefrorenen Bewegung entstehen theatralische Zerklüftungen, abweisende Hochgebirgsszenerien, zwischen denen sich die Geröllfelder dehnen wie Streu aus geschreddertem Fels. Der Mensch in dieser Landschaft kommt dem Betrachter wie ein Irrtum vor.
    Aber er ist Bauer und Krieger, Händler und Held, er spielt und lässt Drachen steigen, er singt und er dichtet, und vor allem wehrt er seit altersher Eroberer, Feinde und Besatzer ab. Er kämpft, denn er muss, und wenn nach Einbruch der
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