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Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)

Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)

Titel: Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
Autoren: Hans Küng
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    Daraus ergeben sich Rückfragen auch an die musikalische Ausdrucksform des Glaubens, den Kirchengesang. Als Maßstab schlechthin für jeglichen Kirchengesang gilt ja die Gregorianik, faktisch die mittelalterlich-fränkische Neubearbeitung des altrömischen Gesangs. Soll diese Gregorianik also für alle Zeiten Kriterium wahren Kirchengesangs sein? Oder soll man die polyphon vokale Kirchenmusik eines Giovanni Pierluigi da Palestrina aus dem 16. Jahrhundert zum Muster eines »wahren«, »reinen« Kirchenstils erklären und die Orchestermusik der Wiener Klassik in der Kirche verbieten, wie unter dem Antimodernisten-Papst PIUS X. (Patron der traditionalistischen »Pius-Brüder«) geschehen? Oder soll für die Musik evangelischer Kirchgemeinden JOHANN SEBASTIAN BACH allgemein verpflichtender Kanon sein?
    Gewiss: gute Musik bleibt glücklicherweise nicht an ihre Entstehungsepoche gebunden . Auch uns im 21. Jahrhundert können Bachs Passionen, Kantaten und Oratorien zutiefst bewegen und uns sogar wieder einmal zur Bibel greifen lassen. Doch können wir manche Kantatentexte, die da gesungen werden, bei genauerem Zuhören kaum alle wörtlich für unseren Glauben ernst nehmen. Während der Weihnachtszeit hören wir gerne Händels »Messias« – obwohl jeder informierte Christ weiß, dass das älteste Evangelium nach Markus und auch das letzte nach Johannes keine Weihnachtsgeschichte enthalten und die Geburtserzählungen Jesu von Mattäus und Lukas viel Legendäres berichten. Solches brauchen auch überzeugte Christen keineswegs zu glauben. Sie müssen nicht Legendäres für historisch halten.
    Dennoch: Nichts gegen Legenden! Sie offenbaren uns oft tiefere Lebensweisheit als pure Fakten. Und gerade WOLFGANG AMADEUS MOZART , der einige Mühe für die Bearbeitung von Händels »Messias« für zeitgenössisches Orchester aufbrachte, zeigt, dass man selbst als freimaurerisch-aufgeklärter, antiklerikaler Katholik doch den Sinn für das Geheimnis der Religion bewahren kann. Unverfroren, wie er war, hat Mozart den Nachfolger Johann Sebastian Bachs als Thomaskantor in Leipzig, einen aufgeklärten Protestanten, in einem Gespräch 1789 darauf aufmerksam gemacht, dass die Protestanten oft das Gespür für die mystische Tiefe des Glaubens vermissen lassen würden: »Ihr fühlt gar nicht, was das will: ›Agnus Dei qui tollis peccata mundi, dona nobis pacem‹, und dergleichen … das mystische Heiligtum unserer Religion.« Allerdings fügte Mozart rasch hinzu: »Nun ja, das geht freilich dann durch das Leben in der Welt verloren; aber – wenigstens ist’s mir so, wenn man die tausendmal gehörten Worte nochmals vernimmt, sie in Musik zu setzen, so kommt das alles wieder, und steht vor Einem, und bewegt Einem die Seele.«
    Nun ist Ihnen, liebe Musikfreunde, sicher bewusst, dass sich nach dem Tod von Bach und Händel in der Mitte des 18. Jahrhunderts auch in der Musik ein epochaler Paradigmenwechsel vollzogen hat: zur weltlichen Moderne . Sowohl die Genies der Klassik (mit Mozart auch Haydn und Beethoven) als auch die der Romantik (Weber, Schubert, Schumann) haben ihre Motivation und Inspiration nicht einfach aus dem christlichen Glauben bezogen. Sie komponierten aus einem spezifisch menschlichen Fühlen und Erleben heraus, das immer mehr auch die Natur einbezog. Es ist somit nicht der christliche Glaube, es ist primär der individuelle Mensch mit seinen Freuden und seinem Schmerz, für den der Komponist in der Musik seinen künstlerischen Ausdruck sucht, findet und vermittelt.
    Unbestreitbar lässt sich also ein Prozess der Individualisierung und Humanisierung der Musik beobachten und damit auch ein Prozess der Verweltlichung, der Säkularisierung. Gefördert wird dieser Prozess durch die bürgerliche Revolution, deren grandioser Vertreter LUDWIG VAN BEETHOVEN ist. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erreicht sie mit Brahms und Wagner ihren Höhepunkt. Was diese Komponisten schreiben, ist trotz gelegentlicher Anleihen bei der Religion eine im Allgemeinen nicht mehr auftrags- und funktionsgebundene Musik, sondern eine autonome Musik, das heißt eine von traditionellem christlichem Kirchenglauben, Christusglauben, Gottesglauben völlig emanzipierte Kunst. Der einzelne Komponist mag seine persönliche Gläubigkeit gepflegt haben, für sein Kunstwerk spielt sie keine entscheidende Rolle mehr. Großartige Symphoniker wie ANTON BRUCKNER mit
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