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Erich Kastner

Erich Kastner

Titel: Erich Kastner
Autoren: Gullivers Reisen
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Minuten drin herumspaziert war, gleich wieder hinlegen und schlafen mußte. Da ich im ständigen Umgang mit dem Riesenkinde sehr bald die Landessprache lernte, klagte ich ihr mein Leid, und sie ließ mich deshalb mein altes Hemd und den englischen Rock tragen, ohne mir böse zu sein. Auch in einem anderen Punkte gab sie nach. Sie hatte sich nämlich angewöhnt, mich an-und auszuziehen, wie das Mädchen mit ihren Puppen zu tun pflegen. Ich aber sagte, daß sich das doch wohl nicht gehöre. Denn ich sei älter als ihr eigener Vater, und ein verheirateter Mann und studierter Schiffsarzt sei ich außerdem. Sie war ein vernünftiges Kind, und so durfte ich mich künftig selber an-und auskleiden, wie ich es gewohnt war.
Meine Anwesenheit sprach sich schnell herum, und nach Feierabend kamen die Bauern aus der Nachbarschaft, um »das Männchen« anzustaunen. Unter den Besuchern war ein als besonders geizig verschriener Gutsbesitzer, der meinen Bauern auf eine häßliche Idee brachte. Mit mir sei doch ein Haufen Geld zu verdienen. »Wo denn?« fragte mein Bauer. »Auf dem Jahrmarkt!« gab der Gutsbesitzer zur Antwort. »Großartig!« rief der Bauer, »ich gebe dir ein Viertel der Einnahmen ab.« »Nein«, sagte der andre, »ein Drittel!«
KINDER UNTER ZEHN METERN ZAHLEN DIE HÄLFTE!
    Nun wurde ich also selber auf dem Jahrmarkt ausgestellt und vorgeführt, wie ich es in England mit den Pferden, Kühen und Schafen aus Blefuscu getan hatte! Liebe Leser, es war eine anstrengende Zeit. Schon der Ritt auf die Märkte machte mich fast krank. Auf einem dreißig Meter hohen Pferd! Neben der Satteltasche des Bauern baumelte eine Spanschachtel, die mit Heu ausgepolstert war und im Deckel fünf Luftlöcher hatte, damit ich nicht erstickte. Ich wurde trotz des Heupolsters, besonders beim Trab, von einer Schachtelwand zur andern geschleudert, daß mir Hören und Sehen verging. Kein Wunder, daß ich außer Beulen und blauen Flecken auch noch den Heuschnupfen bekam! Deshalb mußte ich während der Vorstellung häufig niesen, was mir, obwohl es den Besuchern großen Spaß machte, sehr peinlich war. Zum Glück durfte Glumda die Tournee mitmachen und gab mir, sooft ich geniest hatte, ein neues Taschentuch. Vor der Bude stand zu lesen: »Hier sehen Sie den Zwerg der Zwerge! Mikroskope sind an der Kasse erhältlich! Kinder unter zehn Metern zahlen die Hälfte!« Der Bauer verkaufte die Eintrittskarten, und sein Kompagnon, der geizige Gutsbesitzer, saß daneben und zählte das Geld. Der Andrang war ungeheuer. Was ich dem Publikum darbot, war im Grunde nicht der Rede wert, und ich mußte immer wieder staunen, wie begeistert man war. Glumda stand auf einem Schemel, stellte mich vor und gab Obacht, daß ich bei meinen bescheidenen Kunststücken nicht vom Tisch fiel. Während ich mit dem Degen Fechtübungen vorführte, erzählte sie den Riesen, wie ich die Ratte erstochen hatte! Dann schwang ich den Hut und gab auf des Mädchens Fragen nach meinem Namen, nach meiner Heimat und nach meinen Abenteuern Antwort, so laut ich konnte. Am besten gefiel jedesmal mein Bericht aus Liliput und Blefuscu. Daß ich, der Zwerg der Zwerge, in Ländern gewesen sei, wo ich als Riese gegolten hätte, fand man über alle Maßen komisch und erklärte einstimmig, ich sei nicht nur das kleinste Lebewesen, sondern zugleich der größte Lügner, den es unter der Sonne gäbe. Abschließend trank ich aus Glumdas Fingerhut, der mit Wein gefüllt war, aufs Wohl der Anwesenden.
    Zwölf Vorstellungen fanden täglich statt. Zwölfmal tat und sagte ich dasselbe, und ich kam mir vor wie ein dressierter Pudel. So ging es von Markt zu Markt, von Stadt zu Stadt, immer hoch zu Roß und jedesmal über Tausende von Kilometern, weil ja auch das Land riesengroß war, nicht nur die Bewohner, das Korn, die Tische und die Schüsseln. Wir reisten mit zwei Pferden. Auf dem einen ritt der geizige Kompagnon mit dem Geldsack. Auf dem anderen saßen der Bauer, Glumda und ich. Zu meiner Erleichterung hockte ich nicht mehr in der Spanschachtel, sondern in einem Kasten, der eigens hierfür angefertigt worden war. In dem mit weichem Tuch ausgeschlagenen Kasten stand ein Puppenbett für mich, und Glumda hielt ihn auf dem Schoß. Manchmal nahm sie mich heraus und erklärte mir die Gegend. Viel sah ich nicht. Denn die Pferde trabten mindestens zehnmal so schnell wie unsre englischen beim schnellsten Pferderennen. Nach acht Wochen, so lange hatte die Tournee gedauert, näherten wir uns dem Höhepunkt der
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