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Engelsbrut - Gunschera, A: Engelsbrut

Engelsbrut - Gunschera, A: Engelsbrut

Titel: Engelsbrut - Gunschera, A: Engelsbrut
Autoren: Andrea Gunschera
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Haut. Der Luftzug fegte die Motten zurück.
    Seine Augen hefteten sich wieder auf Eve. Sie stand reglos, umklammerte ihr blutendes Handgelenk und registrierte voller Überraschung, dass sie sich nicht mehr fürchtete. Glück rauschte durch ihre Adern wie eine starke Droge. War das seine Wirkung auf Menschen? Der vielfarbige Blick verengte sich, taxierte sie, schien sie zu durchdringen. Dann streckte er eine Hand nach ihr aus. Ein Schrei schnitt in ihre Wahrnehmung.
    „Nicht“, brüllte jemand. „Nicht!“
    Schüsse brandeten auf. Eve konnte sehen, wie die Kugeln am Leib des Engels abprallten, als schütze ihn ein unsichtbarer Schild. Die Dunkelheit jenseits des Altars geriet in Bewegung. Mordechais Kopf fuhr herum. Der Engel sah sie immer noch an. Dann erfasste Eve die Konturen eines Mannes, leuchtende Locken und dachte für einen Herzschlag, wie sehr sie denen des Engels glichen.
    Kain feuerte noch mehr Schüsse ab. Querschläger gruben sich in die Wand der Kapelle. Der Engel drehte sich, nur eine Winzigkeit, und fegte Kain mit einem Flügelschlag von den Füßen. Wie durch einen Zufall erfasste er Mordechai mit dem gleichen Hieb und schleuderte ihre Körper quer über das Dach, tief in die Dunkelheit. Eve konnte nicht sehen, ob sie sich wieder aufrafften. Sie konzentrierte sich auf diese tausendfarbigen Augen, die sie in der Zeit festhielten und ihr das Gefühl gaben, dass nichts mehr zählte. Nicht in der Zukunft und nicht in der Vergangenheit.

    Alan stoppte mitten im Lauf. Er starrte herüber zu den Körpern von Kain und Mordechai, die reglos am Fuß der Dachbrüstung lagen. Verkrümmt und mit verdrehten Gliedern, so dicht, dass sie sich beinahe berührten. Der Aufprall musste ihnen alle Knochen gebrochen haben. Er blickte zurück zu dem Wesen, das seine Hand nach Eve ausstreckte und erkannte im gleichen Moment, dass keine Drohung in der Geste lag. Kain hatte sich getäuscht.
    Der Engel war gut zwei Köpfe größer als er, eine perfekt gemeißelte, alabasterfarbene Gestalt. Die Vertrautheit der Form nahm Alan den Atem, diese vielfach porträtierte Silhouette, die er von Gemälden kannte, tausend Zeichnungen und Skulpturen, und die dennoch nicht der Grazie und Schönheit dieses Wesens gerecht wurden. Das war nicht die Bestie, deren Bild Katherina heraufbeschworen hatte.
    Alans Blick glitt zu Eve, die keinen Zoll vor dem Engel zurückwich. Eine überwältigende Erleichterung verengte ihm die Kehle. Sie lebte, und sie hatte keine schweren Verletzungen erlitten. In seiner Erinnerung grub er nach dem Namen des Engels. Dem Namen, den sein Vater gemurmelt hatte, wie eine Kostbarkeit.
Asâêl
.
    „Asâêl!“ Wie ein Echo seiner Gedanken erscholl Mordechais Ruf durch die Nacht. „Asâêl!“
    Der Engel wandte den Kopf. Mordechai tauchte aus dem Dunkel auf und kam schleppend näher. Er zog ein Bein nach.
    „Welches Jahr schreiben wir?“
    Die Stimme des Engels klang voll und melodisch. Einen Moment fragte sich Alan, wie es möglich war, dass er Asâêl verstehen konnte. Dann wurde ihm bewusst, dass die Worte sich in seinem Kopf geformt hatten. Asâêl hatte nicht die Lippen bewegt.
    Mordechai hielt inne. Verwirrung glitt über seine Züge, vielleicht über die Profanität der Frage. Es waren die ersten Worte, die dieses Wesen nach über tausend Jahren Kerkerhaft sprach. Und es fragte, welches Jahr sie hatten?
    „2009“, sagte Eve.
    „2009“, wiederholte der Engel. „Wer ist ...“ Er brach ab und schüttelte den Kopf. „Gibt es noch die Königreiche der Menschen?“
    „Die Welt hat sich verändert.“ Mordechai hatte seine Fassung zurückgewonnen. „Erkennst du mich? Ich habe deine tausendjährigen Ketten gelöst.“
    „Du?“ Der Engel entfaltete seine Flügel zu voller Größe. Diese Flügel, die nicht Federn waren, sondern eine Art dicke Haut, bedeckt von kurzem, silbrigen Haar. „Warum?“ Sein Kopf neigte sich, als würde er Mordechai nun eingehender betrachten. „Du suchst nach Erleuchtung“, beantwortete er sich selbst die Frage. „Weil du glaubst, dass sie dich wieder ganz fühlen lässt.“ Sein Lachen klang wie Kristalle, die aneinander rieben. „Dabei besitzt ihr bereits die größte Gabe! Ihr Menschen seid zum Bersten gefüllt mit Emotionen. Wisst ihr nicht, welch ein Geschenk das ist? Du suchst nach etwas, das du längst besitzt.“
    Langsam drehte er sich um. Alan versteifte sich unter dem Bann seines Blicks. Er krümmte sich unter der Macht, die darin lag. Die ungeheure Verführung, der
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