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Engel des Vergessens - Roman

Engel des Vergessens - Roman

Titel: Engel des Vergessens - Roman
Autoren: Wallstein Verlag
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mit dem Brot auch die Tiere bedenken, sagt Großmutter, denn das Brot, das du verteilst, kommt wieder zurück.
    Zu Allerseelen stellt sie einen Laib und eine Schale Milch auf den Tisch für die Toten. Damit sie zu essen haben, wenn sie in der Nacht kommen, und dass sie uns in Ruhe lassen, sagt sie.
    Ich stelle mir vor, wie die Toten mit unsichtbaren Händen essen, aber am Morgen scheint nichts berührt worden zu sein. Das Messer liegt neben dem Brotlaib, die Milch steht auf dem Tisch, als hätte kein Hauch sie bewegt. Waren sie da, frage ich. Ja, sagt Großmutter. Sie muss es ja wissen, denke ich, sie ist vertraut mit dem Tod. Sie hat ihn ja damals gesehen, als er sich gezeigt hat jeden Tag und jede Stunde.
    * * *

Mutter arbeitet außer Haus. Beim Frühstück kann ich sie durch das Küchenfenster im Stall werken sehen. Mit einem Weidenkorb auf dem Rücken eilt sie auf die Tenne und wieder zurück in den Stall, sie beugt sich breitbeinig über die Futterkübel, aus denen es dampft, und mischt mit der Hand büschelweise geschnittenes und gesiebtes Heu in den Schweinetrank. Kommt sie mit einem Werkzeug in der Hand am Haus vorbei, tritt sie gewöhnlich ans Küchenfenster, um nach mir zu sehen. Sie klopft an die Fensterscheibe und ruft, wo ist meine kokica , was Hühnchen bedeutet. Manchmal blinzelt sie nur mit den Augen und geht schweigend davon.
    Sie trägt hellere Schürzen als Großmutter und liebt es, während der Arbeit zu singen.
    Je nachdem, aus welcher Richtung ihr Singen zu hören ist, kann ich schließen, wo sie sich gerade aufhält. Ist sie in heiterer Stimmung, lockt sie mich mit Koserufen, mit denen sie auch die Tiere bedenkt, ins Freie, um mir eine Arbeit aufzutragen oder mich an sich zu drücken. Ihre Zärtlichkeiten sind ungestüm. Sie greift nach mir, wie Großmutter nach den Hühnern greift, und zieht mich an sich, sie kitzelt und beißt mich, wenn ich versuche, ihr zu entkommen. Ist sie einmal niedergeschlagen, lässt sie mich nicht an sich heran. Ihr Kummer übt auf mich eine große Anziehung aus. Ich wünsche mir in solchen Momenten, auf ihr herumkriechen zu können, wie eine Katze auf einem Baum herumkriecht, und ihr von oben, vom Scheitel herab in die Augen zu blicken, ihre Wangen zu lecken, ein wenig um ihre Nase zu streichen oder mich in ihren Rücken festzukrallen, falls sie versuchen sollte, mich abzuschütteln. Mutter hat allerdings kein Verständnis für meine Wünsche. Kaum berühre ich ihre Hüfte, drängt sie mich ab wie ein unwilliges Muttertier ihre Jungen und fragt, wann ich vorhätte, die Arbeit, die sie mir aufgetragen hat, auszuführen. Ich sage, gleich, hoffend, dass Großmutter alles mitgehört hat, um meine Pflichten zu übernehmen, was sie übrigens gerne tut, um Mutter zu ärgern.
    Zuweilen finde ich Mutter weinend im elterlichen Schlafzimmer. Dann sitzt sie, mit Gummistiefeln an den Füßen, auf dem Bett. Es ist ihr unangenehm, wenn ich sie in diesem Zustand überrasche. Was suchst du hier, fragt sie. Dich, sage ich, dich! Ihre Verzweiflung muss groß sein, denn die Gummistiefel und ihre befleckte Schürze passen so gar nicht zur hellen, leinenen und mit bunten Blumen bestickten Tagesdecke, die sie über das Ehebett gebreitet hat.
    An lauen Abenden sitzt sie hinter dem Haus auf der Wiese, schaut in den Himmel oder lehnt auf dem Holzbalkon an der südlichen Seite des Auszugshäuschens, wo man sie nicht sehen kann. Einmal kniet sie im Vorraum vor einem Kühlschrank, der gerade geliefert wurde. Großmutter schimpft aus der Küche, wozu dieses Gerät gut sein solle, es koste nur Geld. Mutter wischt den Kühlschrank mit einem weißen Stofffetzen aus, den sie immer wieder in eine Waschschüssel mit heißem Wasser taucht und auswringt. So einen Kühlschrank brauche man heutzutage in jedem Haushalt, sagt sie trotzig. Ach was, meint Großmutter, sie habe noch nie einen Kühlschrank besessen, niemand habe einen Bedarf an so einem Gerät.
    Eines Abends befestigt Mutter zwei gerahmte Engelbildchen über meinem Bett in der Kammer, die ich mit Großmutter teile. Seit ich einen Bruder bekommen habe, schlafe ich nicht mehr im Schlafzimmer der Eltern im Auszugshäuschen, sondern bin zur Großmutter gezogen, was mich sehr freut, weil Großmutter mein Kindheitsstock ist, an dem ich mich festhalte. Mutter sagt, während sie zwei kleine Nägel in die Wand schlägt, um die Bildchen aufzuhängen, dass sie mir zwei Schutzwesen mitgebracht habe, die über mich wachen sollen. Ein Goldkopf mit lockigen
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