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Endlich

Endlich

Titel: Endlich
Autoren: Christopher Hitchens
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statistisch ohnehin nahelegen. Viertens – warum überhaupt Krebs? Fast alle Männer bekommen Prostatakrebs, wenn sie lange genug leben. Das ist eine recht würdelose Angelegenheit, aber das Syndrom ist bei Heiligen und Sündern, Gläubigen und Ungläubigen gleichermaßen verbreitet. Wenn jemand darauf besteht, dass Gott passende Krebserkrankungen austeilt, muss er auch erläutern, weshalb so viele kleine Kinder Leukämie bekommen.«
    Am stärksten jedoch berühren die Passagen, in denen er die Ausfälle seines Körpers beschreibt: den plötzlichen Verlust der Stimme, die Erbrechensanfälle mitten im Gespräch oder im Interview, die Aufstände seines Körpers, nachdem er sich für die stärkste Strahlendosis entschieden hatte. Als Wissenschaftsgläubiger, der er war, hat er sehr wohl an die Möglichkeit einer Heilung geglaubt und dafür jede Anstrengung auf sich genommen – aber er hat sich verboten, auf ein Wunder zu hoffen. Bis zur letzten Minute gelang es ihm, die Klarheit seines Geistes und seine unbeugsame Neugier für die Welt, in der er lebte, aufrechtzuerhalten. Sein letztes Wort, bezeugt sein Freund Steve Wasserman, der in der Stunde des Todes (15. 12. 2011) am Bett von Christopher Hitchens saß, war: »Downfall capitalism«.
    Berlin, April 2013

I

Zu meiner Zeit bin ich mehr als einmal aufgewacht und habe mich gefühlt wie der Tod. Nichts aber hatte mich auf jenen frühen Junimorgen vorbereitet, als ich zu Bewusstsein kam und es war mir, als sei ich an meinen eigenen Leichnam festgekettet. Die Höhlung von Brust und Thorax schien leergeschabt und mit langsam hart werdendem Zement ausgegossen. Ich konnte mich schwach atmen hören, doch es gelang mir nicht, meine Lunge zu füllen. Mein Herz schlug viel zu schnell, dann wieder zu langsam. Jede noch so geringe Bewegung brauchte planende Vorsicht. Es war eine gewaltige Anstrengung, das Zimmer des New Yorker Hotels zu durchqueren und den Notdienst anzurufen. Die Sanitäter trafen rasch ein und traten mit größter Höflichkeit und Kompetenz auf. Ich hatte noch Zeit, mich zu fragen, weshalb sie wohl Stiefel und Helme und so viel schweres Hilfsgerät brauchten, aber nun, da ich auf die Szene zurückschaue, erkenne ich in diesem Vorgang die sanfte, nachdrückliche Deportation aus dem Land der Gesunden über die scharf markierte Grenze ins Territorium der Krankheit. Nach wenigen Stunden hatten die Ärzte der traurigen Zollstation einige Sofortmaßnahmen am Herzen und an der Lunge getroffen, mir aber auch noch einige andere Postkarten aus dem Inneren gezeigt und mitgeteilt, als Nächstes solle ich einen Onkologen besuchen. Ein Schatten lagerte auf den Röntgenbildern.
    Am Vorabend hatte ich mein jüngstes Buch bei einer erfolgreichen Veranstaltung in New Haven vorgestellt. Am Abend dieses entsetzlichen Morgens sollte ich bei Jon Stewart in der Daily Show auftreten und dann im 92nd Street Y auf der Upper East Side ein ausverkauftes Podiumsgespräch mit Salman Rushdie führen. Meine äußerst kurze Kampagne der Realitätsverleugnung nahm folgende Form an: Ich würde diese Termine nicht absagen, meine Freunde nicht enttäuschen, mir die Chance zum Verkauf einiger Stapel meiner Bücher nicht entgehen lassen. Es gelang mir, die beiden Auftritte durchzuziehen, ohne dass irgendjemand etwas bemerkte, obwohl ich mich zweimal übergeben musste – mit einer bemerkenswerten Kombination aus Präzision, Säuberlichkeit, Gewalt und Fülle, jedes Mal kurz vor dem öffentlichen Auftreten. So machen es die Bürger des kranken Landes, solange sie sich noch hoffnungslos an ihr altes Domizil klammern.
    Die neue Heimat ist auf ihre Art recht einladend. Alle lächeln einen ermutigend an, und es scheint keinerlei Rassismus zu geben. Es herrscht ein egalitärer Geist, und diejenigen, die diese Zone regieren, sind ganz offensichtlich durch Verdienste und harte Arbeit in ihre Stellung gelangt. Andererseits ist der Humor ein wenig schwach, und die Scherze wiederholen sich, von Sex ist kaum die Rede, und die Cuisine ist die schlechteste aller Länder, die ich je besucht habe. Das Land hat eine eigene Sprache – eine lingua franca , die es vermag, sowohl langweilig wie schwierig zu sein und Namen enthält wie Ondansetron (für einen Arzneistoff gegen den Brechreiz) und auch einige bestürzende Gesten, an die man sich gewöhnen muss. Beispielsweise kann ein Würdenträger, dem man zum ersten Mal begegnet, einem abrupt die Finger tief in den Nacken senken. So erfuhr ich, dass mein Krebs sich
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