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Endlich

Endlich

Titel: Endlich
Autoren: Christopher Hitchens
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hatte er einen Umweg von seiner Buchpräsentation in ein Krankenhaus machen müssen, weil er glaubte, er habe einen Herzinfarkt. Als ich ihn dann am Bühneneingang des 92nd Street Y stehen sah, wussten er und ich – und nur wir beide –, dass er vielleicht Krebs hatte. Wir umarmten uns in einem Schatten, den nur wir sahen und mit dem wir den Kampf aufnehmen wollten. Wir waren euphorisch. Er hob mich hoch, und wir lachten.
    Wir gingen in den Vortragssaal, wo er sich wieder einmal ein Publikum eroberte. Wir überstanden ein jubelndes Abendessen zu seinen Ehren und schlenderten dann durch die schöne Manhattan-Nacht zurück zu unserem Hotel; wir gingen über fünfzig Blocks. Alles war, wie es sein sollte, nur war es das eben nicht. Wir lebten in zwei Welten. Die alte, die nie schöner schien, war noch nicht verschwunden, und die neue, von der wir so wenig wussten außer der Angst, die sie uns machte, war noch nicht richtig da.
    Die neue Welt dauerte neunzehn Monate. Während dieser Zeit (während er das tat, was er »sterbend leben« nannte) bestand er mit wilder Entschlossenheit auf dem Weiterleben, und seine Konstitution – physisch und philosophisch – tat alles, was sie konnte.
    Christopher wollte zu den fünf bis zwanzig Prozent gehören, die geheilt werden konnten (die Ratio hing davon ab, mit welchem Arzt wir sprachen, und wie der die Scan-Ergebnisse gerade interpretierte). Ohne sich je über seinen medizinischen Zustand hinwegzutäuschen und ohne mir je zu erlauben, dass ich mir falsche Vorstellungen von seinen Überlebensaussichten machte, reagierte er auf jede kleine (klinische oder statistische) gute Nachricht mit radikaler, kindlicher Hoffnung. Sein Wille, seine Existenz intakt zu halten, weiter mit seiner erstaunlichen Intensität zu leben, war ungeheuer.
    Thanksgiving war sein liebster Feiertag, und ich sah voll Bewunderung zu, wie er – obwohl ihm schlecht war von der Chemotherapie – ein großes Familientreffen in Toronto organisierte, mit allen seinen Kindern und seinem Schwiegervater, am Vorabend einer wichtigen Diskussion mit Tony Blair über Religion. Für dieses Familienfest sorgte ein Mann, der mir im Hotel an jenem Abend sagte, das würde wahrscheinlich sein letztes Thanksgiving sein.
    Nicht lange vorher hatte er in Washington an einem hellen, milden Altweibersommertag die Familie und verschiedene Freunde auf Besuch aufgeregt zu einem Ausflug in die Ausstellung »Ursprünge der Menschheit« im Museum of Natural History versammelt, wo ich ihn aus dem Taxi die Granitstufen hochrennen und sich droben in einen Abfallbehälter erbrechen sah; dann führte er uns in die Museumssäle, wo er uns voll Überschwang die Leistungen von Wissenschaft und Vernunft nahebrachte.
    Christophers Charisma verließ ihn nie, weder in der Öffentlichkeit noch privat, nicht einmal im Krankenhaus. Er machte eine Party draus und verwandelte den sterilen, kühlen, neonerhellten, summenden, piependen und blinkenden Raum in ein Studierzimmer und einen Salon. Seine listenreiche Konversation hörte nie auf.
    Die ständigen Unterbrechungen: Das Fingern und Drücken, das Proben entnehmen, die Atembehandlung, der Austausch der Beutel mit den intravenösen Substanzen – nichts hielt ihn davon ab, Hof zu halten, ein Argument zu formulieren, eine Pointe zu setzen für seine »Gäste«. Er hörte zu und holte uns aus, und er brachte uns alle zum Lachen. Er wollte immer noch eine Zeitung, ein Magazin, einen Roman, ein Rezensionsexemplar, und alles kommentierte er. Wir standen um sein Bett und lehnten in Plastiksesseln, während er uns zu Teilnehmern an seinen sokratischen Gesprächen machte.
    Eines Abends hustete er Blut und wurde rasch in die Intensivstation geschoben, damit man eine hastig angesetzte Bronchoskopie vornehmen konnte. Ich wachte über ihn und schlief dann wieder in einem ausklappbaren Sessel. Wir lagen nebeneinander auf unseren Einzelbetten. Einmal wachten wir auf und fingen an zu schnattern wie Kinder, die zusammen übernachten dürfen. Damals war dies das Optimum.
    Als er nach der Bronchoskopie zu sich kam und nachdem ihm der Arzt gesagt hatte, das Problem mit seiner Luftröhre sei kein Krebs, sondern eine Lungenentzündung, hatte er immer noch den Schlauch im Hals, aber er kritzelte gierig Notizen und Fragen zu jedem erdenklichen Gegenstand. Ich bewahrte die Seiten auf, wo er seinen Part in der Unterhaltung niederschrieb. Auf der ersten Seite stehen Zärtlichkeiten und ein gemaltes Bild und dann
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