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Empfindliche Wahrheit (German Edition)

Empfindliche Wahrheit (German Edition)

Titel: Empfindliche Wahrheit (German Edition)
Autoren: John le Carré
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Reisegruppen anstarren lassen.«
    »In Ordnung. Mache ich. Gute Idee.«
    Auch das war längst so besprochen.
    »Schauen Sie nach einem blauen Toyota-Geländewagen, neu und glänzend. Mit einem roten Schild rechts an der Windschutzscheibe, auf dem KONGRESS steht.«
    Zum dritten Mal seit seiner Ankunft ordnete sie einen Uhrenvergleich an – reichlich überflüssig in der Quartz-Ära, dachte er, ehe ihm einfiel, dass er es mit dem Radiowecker ja genauso gemacht hatte. Noch eine Stunde und zweiundfünfzig Minuten.
    Sie hatte aufgelegt. Er war wieder in Einzelhaft. Bin das wirklich ich? Doch. Ich bin’s, die bewährte Kraft, nur fühle ich mich alles andere als kraftvoll.
    Mit dem Widerwillen des Gefangenen musterte er das Zimmer, diese Zelle, die sein Zuhause geworden war. Da lagen die Bücher, die er sich mitgenommen und von denen er keine Zeile gelesen hatte: Simon Schamas Chronik der Französischen Revolution. Montefiores Geschichte Jerusalems. Unter besseren Umständen wäre er mit beidem schon durch. Das Handbuch über die mediterrane Vogelwelt, das sie ihm aufgezwungen hatten. Sein Blick wanderte hinüber zu seinem Erzfeind, dem Stuhl-der-nach-Pisse-roch. Er hatte die halbe gestrige Nacht darin gesessen, nachdem das Bett ihn ausgeworfen hatte. Sollte er ihm eine letzte Chance geben? Sich nochmals den Film seines Namensvetters über die Zerstörung der deutschen Talsperren im Mai ’ 43 zu Gemüte führen? Wobei Laurence Oliviers Heinrich der Fünfte vielleicht die sicherere Wahl war, um die Götter der Schlacht günstig zu stimmen. Oder er brachte sich gleich mit ein paar Takten eines vatikan-zensierten Softpornos auf Touren …
    Ungeduldig öffnete er die Tür des rachitischen Kleiderschranks, holte Paul Andersons mit Reiseaufklebern übersätes Rollköfferchen heraus und packte es voll mit dem Plunder, der die fiktionale Identität eines vielgereisten Vögel beobachtenden Statistikers ausmachte. Dann saß er auf dem Bett und sah dem verschlüsselten Handy beim Aufladen zu, denn er wurde die Angst nicht los, dass es im entscheidenden Augenblick seinen Geist aufgeben könnte.
    ***
    Ob er aus Liverpool sei, fragte ihn im Lift ein nicht mehr junges Paar in grünen Blazern. Leider nein. Ob er dann zur Gruppe gehöre? Bedauerlicherweise nicht – welche Gruppe denn? Aber da hatten sein Upperclass-Akzent und die exzentrische Freizeitbekleidung schon ihre Wirkung getan, und sie ließen von ihm ab.
    Im Erdgeschoss angekommen, fand er sich in einem veritablen Hexenkessel wieder. Eine blinkende, von grünen Girlanden und Ballons eingerahmte Neonschrift rief den St. Patrick’s Day aus. Ein Akkordeon quäkte irische Volksmusik. Vierschrötige Männer und Frauen mit grünen Guinness-Hauben auf dem Kopf tanzten. Eine beschwipste Frau mit verrutschter Haube packte ihn um den Hals, küsste ihn auf den Mund und ernannte ihn zu ihrem Goldjungen.
    Unter Entschuldigungen rempelte er sich bis zur Eingangstreppe durch, wo ein Pulk von Gästen auf ihre Autos wartete. Er atmete tief und roch durch die Benzindämpfe einen Duft nach Lorbeer und Honig. Über ihm die verhangenen Sterne einer Mittelmeernacht. Er war so gekleidet, wie ihm aufgetragen: festes Schuhwerk, und bloß nicht den Anorak vergessen, Paul, nachts kann es frisch werden am Meer. Und überm Herzen, in der reißverschlussgesicherten Innentasche des Anoraks, das unknackbar verschlüsselte Handy. Er spürte es als leichten Druck an der linken Brustwarze – was seine Finger aber nicht davon abhalten konnte, sich nochmals verstohlen zu vergewissern.
    Ein glänzender Toyota-Geländewagen hatte sich in die Schlange vorfahrender Autos eingereiht, und ja, er war blau, und ja, an der Windschutzscheibe auf der Beifahrerseite hing ein rotes Schild: KONGRESS . Dahinter zwei weiße Gesichter, der Fahrer männlich, mit Brille, jung. Das Mädchen, kompakt und tatkräftig, sprang heraus wie eine Seglerin und wuchtete die Fondtür auf.
    »Sie sind Arthur, oder?«, rief sie in breitestem Australisch.
    »Nein, ich heiße Paul.«
    »Stimmt. Paul. Sorry. Arthur ist unser nächster Stopp. Ich bin Kirsty. Schön, Sie kennenzulernen, Paul. Hüpfen Sie rein.«
    Auch diese Scharade war abgemacht. Typischer Overkill, aber sei’s drum. Er hüpfte hinein und fand sich allein auf dem Rücksitz. Die Fondtür wurde zugeschlagen, und der Geländewagen manövrierte sich zwischen den weißen Torpfosten hindurch auf die kopfsteingepflasterte Straße.
    »Und das ist Hansi«, sagte Kirsty über die Lehne
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