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Ellorans Traum

Ellorans Traum

Titel: Ellorans Traum
Autoren: Frances G. Hill
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Richtung der Bewegung nicht. Sieh her.« Er machte es mir vor, und ich wiederholte die Fingerbewegungen so lange, bis er zufrieden war.
    »Versuche es nun noch einmal«, gebot er. Ich wandte meine Aufmerksamkeit wieder der Feder zu. Meine Finger befahlen ihr aufzusteigen, und mein Geist war eine sich wiegende, sanft von den Luftströmungen getragene Feder. Sie erbebte, schwankte auf die Spitze empor und hob sich dann zitternd einen halben Meter über die Tischplatte. Keuchend stieß ich den unwillkürlich angehaltenen Atem aus. Die Feder taumelte zu Boden.
    »Ach«, sagte ich enttäuscht. Julian lachte. Er erhob sich und legte mir die Hand auf die Schulter.
    »Genug für heute, Elloran. Du sollst dich nicht überanstrengen.« Ich wollte protestieren, aber dann merkte ich mit einem Mal, wie erschöpft ich war. Julian drückte kurz meine Schulter und ließ sie los.
    »Sei vorsichtig, wenn du versuchst, etwas mit deinem Geist zu bewegen«, sagte er ernst. »Du hast gesehen, wie schwer es ist, etwas so Leichtes wie eine Feder zu heben, wenn man es noch nicht beherrscht. Übe an leichten Gegenständen, hörst du? Du könntest dir sonst schaden.« Er schnipste nachlässig mit den Fingern, woraufhin sich die Tür öffnete, und schob mich hinaus. Müde und erschöpft wie nach einer langen Krankheit schleppte ich mich die Treppe hinunter.
    Nach dieser ersten Lektion, die mir so schwer gefallen war, ging es jedoch zunehmend leichter. Julian war ein guter Lehrer. Manchmal wirkte er beinahe ausgelassen und gab mir sogar eine Kostprobe seiner meisterhaften Fähigkeiten, etwas, womit er sonst sehr zurückhaltend war.
    An einem trüben Herbstnachmittag führte er mir einen Zauber vor, der mein Herz aufgeregt schlagen ließ. Julian hockte sich mit angezogenen Beinen in seinen Lehnsessel und preßte die Arme seltsam verrenkt eng an seinen Körper. Er senkte den Kopf auf die Brust. Seine bleichen Finger verbogen sich auf eine Art, die eigentlich unmöglich war. Er murmelte einige fremde Worte, deren summender Klang auf schreckliche Weise falsch und schmerzhaft in meinen Ohren schrillte. Magramanir, die schlafend auf meiner Schulter gehockt hatte, erwachte und trippelte aufgeregt hin und her. Sie krächzte laut und schlug mit den Flügeln.
    Ein Krächzen aus Julians Kehle antwortete ihr. Seine hagere Gestalt verschwamm und schrumpfte atemberaubend schnell zusammen. Eine weiße Brust schimmerte, und schwarze Flügel breiteten sich weit aus. Glänzende Knopfaugen musterten mich spöttisch. Ein schwarzer Schnabel öffnete sich zu einem weiteren lauten Krächzen. Magramanir flog auf und gesellte sich zu ihm. Als sie so nebeneinander saßen, konnte ich nicht mehr sagen, wer von den beiden Julian, und wer der echte Rabe war.
    »Dafür wirst du noch ein paar Jahre üben müssen«, sagte der eine Vogel mit Julians Stimme. »Die Unterrichtsstunde ist vorbei.«
    Er schwang sich in die Luft und flog durch das Fenster, das sich wie von selbst geöffnet hatte. Magramanir zwinkerte mir zu und folgte ihm. Atemlos lehnte ich mich weit aus dem Fenster und sah den beiden Raben nach, wie sie in gleitendem Flug über den Fluß hinwegschossen und in der dunstigen Ferne verschwanden.
    Der Hohe Winter ging durch die Zeit der Dunklen Tage: kalt und finster wie ich ihn noch nie erlebt hatte. Die anfangs so stumpfsinnige Paukerei von Zauberformeln bekam eine völlig andere Gestalt. Ich begann, größere Zusammenhänge zu erkennen, die wohl schon immer bestanden hatten, die ich aber jetzt erstmalig durchschaute.
    Julian beobachtete meine Fortschritte ebenso gespannt wie ich selbst. Ich verbrachte mehr und mehr Zeit in seiner Studierstube, zu einigen Gelegenheiten übernachtete ich sogar dort. Ich fragte ihn nie, warum er mich in den geheimen Künsten unterwies. Soviel ich wußte, war es Zauberern streng verboten, ihr Wissen an gewöhnliche Sterbliche weiterzugeben. Genaugenommen sollte es sogar überhaupt nicht möglich sein. (Aber warum war es dann verboten?)
    Seit einigen Tagen mühte ich mich mit einem eher simplen Zauber ab, der sich einfach nicht meistern lassen wollte. Magramanir hockte auf meiner Schulter, wie sie es inzwischen immer häufiger tat, und sah mir aufmerksam bei meinen Bemühungen zu. Ich stellte die verhaßte Kerze vor mich hin und blickte auf den schwarzen Docht, den ich zum Brennen bringen wollte. Mehr als ein schwaches Glühen war mir bisher nicht beschieden gewesen, aber ich ging gelassener als je zuvor an die Sache heran, da ich ohnehin
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