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Elina Wiik - 03 - Der tote Winkel

Elina Wiik - 03 - Der tote Winkel

Titel: Elina Wiik - 03 - Der tote Winkel
Autoren: Thomas Kanger
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warten, deine Zeit kommt früh genug.«
    In der Pause beschloss Fariz, sich davonzuschleichen. Bassam wollte ihn begleiten. Zusammen kletterten sie über die Mauer auf der Rückseite der Schule und rannten los. Als sie außer Sichtweite waren, wurden sie langsamer und gingen dann in normalem Tempo weiter. Bis zur Kreuzung war es ein ziemliches Stück. Sie versuchten zu trampen, aber kein Auto hielt an. Je näher sie kamen, desto mehr Jungen sahen sie auf der Straße. Die Schulen, die näher am Wachposten der jüdischen Siedlung lagen, hatten den Unterricht für diesen Tag beendet, und die älteren Jungen versammelten sich. Einige unterhielten sich, aber die meisten von ihnen schwiegen. Es war so weit.
    Noch ehe Fariz und Bassam eintrafen, hörten sie die ersten Detonationen. Fariz konnte die verschiedenen Geräusche mühelos unterscheiden. Das Paffen der Tränengasgranaten, das dumpfe Knallen der gummiummantelten Stahlkugeln, das Pfeifen der Plastikgeschosse und das scharfe Knattern der Maschinenpistolen. Fariz zog die Schultern ein und sammelte, während sie weitergingen, Steine von der Straße auf.
    Vor dem Zaun der Siedlung und dem Wachturm mit der weißblauen Flagge standen ein Panzer, zwei gepanzerte Fahrzeuge und mehrere Jeeps mit Soldaten. Fünfzig Meter weiter stieg schwarzer Rauch von brennenden Reifen auf. Jungen mit Schleudern rannten hinter dünnen Blechbarrikaden hervor und feuerten in raschen Angriffen ihre Steine ab. Fariz’ Herz raste, aber Angst hatte er keine. Als er an einer Reihe wartender Krankenwagen des Roten Halbmonds vorbeikam, fuhren gerade zwei mit quietschenden Reifen und heulenden Sirenen los, um weitere Verletzte abzuholen.
    »Ich habe keine Zwiebel«, sagte Fariz an Bassam gewandt. »Hast du eine?«
    » Na’am« ,antwortete Bassam und zog zwei Zwiebelhälften aus der Hosentasche. Die eine reichte er Fariz, und sie rieben sich ihre Gesichter mit der Zwiebel ein, um das Tränengas besser ertragen zu können.
     
    Sie rannten auf ein aufrecht stehendes Betonrohr zu und gingen mit zwei älteren Jungen dahinter in die Hocke. Fariz steckte die Hand in seine Tasche und zog drei Steine aus ihr hervor. Dann lief er so weit vor, wie er nur wagte, und warf einen Stein nach dem anderen, näher und näher. Er sah, dass er mit einem die Kühlerhaube eines Jeeps getroffen hatte. Ein Junge hinter ihm warf einen Molotowcocktail, der auf dem Hang vor den Soldaten aufflammte. Ehe der Junge wieder das Betonrohr erreicht hatte, ertönte der dumpfe Knall eines Gewehrs, und er stürzte.
    Ein Panzer rollte heran, weitere Tränengasgranaten wurden abgefeuert, und die Brigade der Steinewerfer zog sich vorübergehend zurück. Aber Fariz blieb stehen. Der Panzermotor dröhnte, und die Raupenketten fraßen sich im Lehm vorwärts. Fariz sah auf den Jungen, der immer noch bäuchlings auf der Erde lag, und anschließend auf den Panzer, der sich ihm näherte. Er bückte sich und hob ein paar Steine vom Boden auf, die schon zuvor als Waffen gedient hatten. Dann rannte er auf den Panzer zu und warf einen Stein nach dem anderen auf ihn. Der Panzerfahrer setzte etwas zurück, und Fariz verfolgte ihn. Jubelnd streckte er seine Arme in die Luft.
    Ein Knall durchschnitt die Luft. Fariz fasste sich an den Hals. Blendendes Licht, das immer greller zu werden schien, als würde er in die Sonne starren. War es so?
     
    Ihre schweren Glieder wollten sich nicht schnell genug bewegen. Wenn sie zu laufen versuchte, verfing sie sich in ihren Röcken. Als sie schließlich dort war, fehlten ihr die Worte, aber Worte wären sowieso überflüssig gewesen. Der Arzt bat sie, Platz zu nehmen.
    »Umm Fariz, Ihr Sohn ist nun ein Märtyrer.« In diesem Augenblick blieb die Zeit für sie stehen. Der Arzt beschrieb, was vorgefallen war. Die Kugel hatte den Hals seitlich gestreift, unter normalen Umständen hätte er wahrscheinlich überlebt. Aber da es sich um ein Projektil gehandelt hatte, das zersplitterte, wenn es auf menschliches Gewebe traf, war ein Splitter ins Gehirn gedrungen. Er war an Ort und Stelle gestorben. Umm Fariz hörte zu, ohne zu verstehen. Von Fariz würden ihr nur die Erinnerung in ihrem Herzen und ein weiteres Plakat an der Schulmauer bleiben.
     
    Am Tag darauf wurde der kleine Leichnam in die rot-grünschwarz-weiße Flagge gehüllt und auf den Schultern von zehn Männern auf einer Bahre durch die Straßen getragen. Aus dem Strandlager waren Tausende gekommen, um Fariz die letzte Ehre zu erweisen. Ganz hinten im Leichenzug
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