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Eisenkinder

Eisenkinder

Titel: Eisenkinder
Autoren: Sabine Rennefanz
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die Uni, ich saß zu Hause und wollte lernen, doch meine Gedanken schweiften immer wieder ab, zu dem Zettel. Ich studierte Alexanders Handschrift, mit der er seinen Namen geschrieben hatte. Große, eckige Druckbuchstaben.
    Ich legte mir Argumente zurecht, warum ich ihn treffen dürfte. Wir könnten uns über das Seminar unterhalten. Wir könnten einen Film sehen. Ich könnte ihm von Jesus erzählen.
    Was sollte Gott dagegen haben?
    Und dann machte ich etwas völlig Verrücktes: Ich wählte seine Nummer. Wir verabredeten uns, für Montagabend.
    Dieses Detail beruhigte mich, Montag war der Beginn der Woche, ein Arbeitstag. Verliebte treffen sich am Samstag, nicht an einem Montag. Mein Date war gar kein Date, sondern eine Art Studientreffen.
    Meiner Mitbewohnerin sagte ich vorsichtshalber trotzdem nichts davon.
    Normalerweise hatte ich keine Geheimnisse vor ihr. Aber ich hatte Angst, sie würde mich von dem Treffen abbringen wollen. Davon ging ich zumindest aus, denn so hätte ich reagiert, wenn sie mit einem Nicht-Christen hätte ausgehen wollen.
    Ich konnte in den Tagen vor der Verabredung kaum essen und mich nicht konzentrieren. Ich lief unruhig durch die Wohnung, putzte das Bad jeden Tag. Mit der Arbeit, die ich für die Uni schrieb, kam ich nicht weiter, ich starrte auf den weißen Bildschirm. In meinem Kopf spielte ich durch, wie weit ich an dem Abend gehen würde. Würde ich ihn küssen? Sobald der Gedanke aufkam, schämte ich mich dafür. In der Kirche hatte ich gelernt, dass schon ein Gedanke ein Betrug sein konnte. Gott sieht alles.
    An dem Abend des verbotenen Dates war meine Mitbewohnerin nicht zu Hause. Ich stand vorher vor meinem Kleiderschrank, der mir auf einmal sehr leer vorkam. Es hatte lange keine Gelegenheit gegeben, sich schick zu machen. Am Ende entschied ich mich für einen anthrazitfarbenen Rollkragenpullover, den ich kurz nach der Wende gekauft hatte und in dem ich mich sicher fühlte. Dazu Jeans. Ich war nervös, ich spürte, wie mein Herz klopfte, als ich zum Bus ging.
    Alexander hatte ein portugiesisches Fischrestaurant im Schanzenviertel ausgesucht. Wir redeten viel, um die Nervosität zu überspielen, doch mit der Zeit wurde es leichter. Vielleicht lag es auch an dem Rotwein. Ich hätte ihn stundenlang nur beobachten können, ich mochte es, wie er sich eine Zigarette anzündete, wie er sich die Haare hinter das Ohr strich, ich versuchte, so viele Details wie möglich aufzusaugen, ich musterte die blaue Packung, französisch, Gauloises. Später gingen wir in eine Bar und dann zum Hafen.
    Manchmal dachte ich an die Gemeinde, an Jesus, wie an einen eifersüchtigen Ehemann, aber ich verdrängte die Gedanken schnell.
    Wir kletterten im Mondschein auf die Barkassen, die im Wasser lagen. Er nahm meine Hand und er küsste mich. Das passierte alles, ohne dass wir groß drüber redeten. Es war nicht meine Entscheidung – oder wenn, dann hatte ich diese Entscheidung schon vor längerer Zeit getroffen, als ich den Zettel mit seiner Telefonnummer nahm.
    Ich glaube, es ging auch nicht speziell um diesen Mann, der sich nicht besonders um mich bemüht hatte, dem ich alles viel zu leicht machte, der nur ein paar nette Worte sagen musste, es ging um diesen Moment, um diese Stille. Als wir uns küssten, verstummten die Stimmen in meinem Kopf, die mir sagten, was ich zu tun hatte, was ich zu lassen hatte. Was falsch war, was richtig war, was Gott gefiel, was Gott nicht gefiel. Ich stand einfach nur da, die Augen geschlos-
sen.
    Minuten vergingen, Stunden. Als ich die Augen wieder aufmachte, standen wir vor seiner Wohnung, sie lag in einem unscheinbaren Neubau im Osten Hamburgs. Ich hatte keine Ahnung, wie ich hierhergekommen war, ich war es nicht gewöhnt, Alkohol zu trinken. Er öffnete die Tür und zog mich hinein. Ich wehrte mich der Form halber noch ein bisschen, dann gab ich auf.
    Als ich am nächsten Morgen aufwachte, lag Alexander neben mir und rauchte. Ich habe nie verstanden, wie man noch vor dem ersten Kaffee eine Zigarette rauchen kann, ohne dass einem schlecht wird. Ich sah mich um, es war eine spartanische, ein wenig eingestaubte Männerwohnung, Bett, Schrank, Schreibtisch, kein Fernseher. Die einzigen persönlichen Gegenstände, die ich sah, waren Bücher und Schallplat-
ten.
    Ich wartete, bis Ruth auf dem Weg zur Arbeit war, bevor ich in die WG zurückkehrte. Die Bibelsprüche an den Wänden schienen mich anzuschreien: Verräterin. Am liebsten hätte ich mich im Schrank versteckt. Ich fühlte
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