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Eis

Eis

Titel: Eis
Autoren: Erich Kosch
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Oberprüfer hob den Kopf und lächelte ihn liebenswürdig an, als wolle er sagen: Entschuldigen Sie, daß ich Sie nicht sofort erkannt habe. Dann nahm er wieder eine dienstliche Haltung ein.
    „Ihr Alter?“
    „Vierunddreißig.“
    „Familienstand?“
    „Verheiratet, keine Kinder. Wir leben in Scheidung.“
    „Kategorie?“ fragte der Oberprüfer seine Kollegen. „Wird gebraucht?“
    „Wichtig und unentbehrlich“ ergänzte der zweite Prüfer.
    „Essentiell!“ rief der dritte aus und hob die Hand hoch. „Kategorie 1/A!“
    „Zwanzig Jahrtausende!“ schloß der Oberprüfer und zeigte seine blanke Handfläche.
    „Pavillon 1/A!“ sagte der zweite Prüfer und hob ebenfalls die Hand – wie ein Fahrdienstleiter seine Signalkelle. Alle drei hielten so für eine Zeit eine Hand hoch, näherten sie ihren Mützen, als salutierten sie, und der als essentiell eingestufte Kulturarbeiter nahm sein Täfelchen, umschritt im Kreise die Arena, drückte die Brust etwas heraus, wie eine Kandidatin bei einer Schönheitskonkurrenz oder wie ein Zirkusartist bei der Parade vor Beginn der Vorstellung, trug seine Tafel vor sich her und drehte sie dem Publikum zu, damit alle ihn bemerkten, und ging auf die in Gold gestrichene Tür zu.
    Der dritte näherte sich. Ein Student, nicht gerade der jüngste. Er verlangte zwei Jahrtausende; soviel brauchte er, um seine Prüfungen zu vertagen. Man gewährte sie ihm sofort – sogar mehr, als er verlangt hatte: die Hälfte der Eiszeit. Die vierte war eine geschiedene Frau von fünfundvierzig Jahren. Sie verlangte alle zwanzigtausend Jahre und noch zehn Jahre dazu, damit sie bei der Enteisung um zehn Jahre jünger sei als ihre Altersgenossinnen. Der fünfte war ein magerer, bärtiger Mann. Er hatte etwas Interessantes an sich, etwas, das alle anhielt, ihre Ohren zu spitzen, damit sie das Ende des Gespräches mit den Offiziellen hinter den Tischen in der Arena mitbekamen.
    „Was machen Sie?“
    „Nichts!“
    „Ihr Beruf?“
    „Ohne Beruf!“
    „Gut – womit haben Sie sich früher beschäftigt?“
    „Mit Meteorologie. Mit Wetterberichten. Inoffiziell, als Amateur.“
    „So? Verzeihung, wie sagten Sie, daß Sie heißen?“
    „Nenad Koljitzki.“
    „Oh!“
    Man wußte nicht, wer das ausgerufen hatte: das Publikum oder die Beamten, die aufgesprungen waren. Die Zuschauer standen ohnehin schon. Die Prüfer waren verwirrt und hörten zu prüfen auf.
    „Vollkommen überflüssig und unbrauchbar, jetzt und für alle Zeit!“ entschied Koljitzki selbst. „Vereisung! Vollständig und endgültig!“ verlangte er mit erhobenem Kopf.
    „Sie haben sich verändert. Wir haben Sie nicht sofort erkannt!“ versuchten die Beamten in familiärem Ton, als hätten sie nicht gehört, was er gesagt hatte. Einer fügte dennoch hinzu: „Aber seien Sie doch nicht so vorschnell. Überlegen Sie es sich. Vielleicht war es doch nicht nötig.“
    Aber Koljitzki ging ausgerechnet auf den Tisch dieses Beamten zu und nahm sich ein weißes Blatt Papier. Er hob es hoch und zeigte es allen wie eine Fahne: den Zuschauern, den Beamten und denen, die in der Schlange warteten.
    „Genau wie ihr alle!“ rief er aus und ging mit entschlossenen Schritten auf die weiße Tür zu, hinter der für einen Augenblick, bevor sie sich lautlos schloß, Schnee und Eis zu erkennen waren.
    Herr und Frau Krekić nutzten die entstandene Verwirrung aus. Sie schlugen sich irgendwie zum Ausgang durch und drängten aus dem Gewühl hinaus.
    „Siehst du?“ sagte sie.
    „Hast du gehört?“ sagte er.
    Sie waren so durcheinander, daß sie vor Aufregung den Weg verfehlten und wie aufgescheuchte Vögel im Käfig blind gegen die Pavillonwände prallten. Sie gerieten vor eine Tür, an die mit großen blauen Buchstaben geschrieben stand:
     
    KATEGORIE III/C: VORÜBERGEHEND
     
    Sie konnten nicht widerstehn, sie mußten einen Blick hineinwerfen. Vom Eis, das hinter der Tür milchfarben leuchtete, war es hier fast heller als draußen. Es war ihnen, als wären sie in den Kern eines Kristalls eingedrungen oder in das Innere eines mächtigen Eisbergs. Und unbewußt schauten sie zurück, um sich nicht zu weit vom Eingang zu entfernen, dann traten sie an die in Reih und Glied im Eis Liegenden heran, um die Inschriften besser entziffern zu können, die wie in steinerne Tafeln in Katakomben eingemeißelt waren. Sie lasen:
     
     
    Lfd. Nr. 60
    PETAR DRAKULIC
    Verwalter der Belgrader Flußbäder
    Vereist 3. IX. 1960
    Enteisung: … ?
     
    Sie kannten ihn
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