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Einsamkeit und Sex und Mitleid: Roman

Einsamkeit und Sex und Mitleid: Roman

Titel: Einsamkeit und Sex und Mitleid: Roman
Autoren: Helmut Krausser
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Pluralis majestatis? Dann
hört mal her, ihr Tausende Arschlöcher!«
    Ekkehard Nölten verlor vollends die Kontrolle über sich selbst.
Alles war in einem Moment zuviel geworden, und die Filter der Zivilisation
griffen nicht länger.
    »Wir leben im blühenden Turbokapitalismus, du kleiner Ladenhüter,
ich will diese gottähnlichen Chips kaufen, sofort, warum darf ich das nicht,
ich zahle auch gern die 3,99 pro Tüte, das sind sie mir wert, diese Chips,
elendiger mieser Schnarchsack, ich sage dir, wenn ich nächste Woche komme und
dieser Laden keine Yoghurt&Coriander -Chips zum Verzehr gegen Bezahlung
anbietet, kauf ich mir eine Knarre und schieb sie dir in den Mund, du Lutscher,
dann werd ich mir, das hab ich nämlich gern, eine Minute lang dein Winseln
anhören, eine Minute, und der Film, der da bei dir abläuft, interessiert mich
keine Scheißsekunde! Ich werd dich abknallen, und alle blöden
Zahnarztgattinnenkotzfotzen, die bei dir einkaufen, du Scheiß-König – ICH nämlich bin dein König, dein gesalbter König und
Kaiser-Kunde von meiner eigenen Gnaden, bin hochwohlgeborener Konsument des
turbokapitalistischen Traumsystems, ja verdammt, verdammt, verdammt. Hast du
das? Hast du das kapiert? Deines beschissenen Lebens einziger Sinn ist es, mir
auf den Knien beim Erwerb der neuen Cauldron-Chips zusehen zu dürfen, dafür
bist du vom großzügigen Kosmos an diesen Platz beraumt worden! So ist das
nämlich! Ja, du mich auch! Jetzt, Freundchen, suchst du das Weite, aber morgen
wird man dich in der Weite suchen, wenn ich dich irgendwo darin begraben hab!«
    Der ehemalige Lateinlehrer Ekki brüllte und tobte, was indes
deutlich weniger angsterregend wirkte, als er selbst vermutet hätte. Bald kamen
zwei stämmige Männer vom Sicherheitsdienst, packten ihn und setzten ihn vor die
Tür. Teilten ihm in knappen Worten mit, er habe fortan Hausverbot, womit die
Angelegenheit ihrerseits ein für allemal erledigt war.

12
    20:00
    Wenig hätte gefehlt, und Swentjas Eltern wären zu Hause
geblieben, denn Maschjonka, Swentjas russischstämmige Mutter, klagte über
Kopfschmerzen. Sie hätte jene Kopfschmerzen aber nicht als rasend beschrieben,
eher als dumpf und bleiern, trotzig und irgendwie gleichgültig zwischen den
Ohren herumhockend. Außerdem lagen Maschjonka und Robert in der vereinsinternen
Rangliste der lateinamerikanischen Standardtänze klar in Führung. Schon ein
dritter Platz würde ihnen am heutigen Abend genügen, um sicher und endgültig
für die städtischen Meisterschaften nominiert zu werden. Also zog das Ehepaar
Pfennig in den Kampf. Swentja war zuvor eingeschärft worden, auf Sonja, ihre
kleine Schwester, die in letzter Zeit unter Alpträumen litt, mehr als nur ein
Auge zu haben. Sonja schlief bereits, als Mahmud klingelte. Er hatte sich den
Hundert-Euro-Schein auf die Stirn gepappt und tat lässig, grinste dabei und
vollführte kleine Tanzschritte. Gleich würde er ja, dachte er, den ersten
weiblichen Unterleib zu Gesicht bekommen, mit dem er nicht irgendwie verwandt
war.
    Ekki ging kurz vor acht Uhr in den Skat-Club, immer noch
aufgewühlt. An diesem Abend spielte er, neben vielen anderen riskanten Soli,
einen Grand ohne Vier, den er normalerweise nie gewagt hätte. Von der
mathematischen Wahrscheinlichkeit her bot er nur dreißig Prozent Gewinnchancen.
Ekki hatte Glück, die Buben waren bei den Gegnern zwei zu zwei verteilt, und
der Tag, der soviel Widerstand geboten hatte, löste sich zuletzt beinahe in
Wohlgefallen auf. Ekki war dennoch nicht zufrieden. Er wurde die bohrende
Vermutung nicht los, daß die Welt ihn hin und wieder mit ein wenig Geplänkel zu
besänftigen suchte, wie man einem Tier im Zoo Extrafutter gibt, oder Spielzeug,
um es zu beschäftigen. Und selbst der Sieg am Kartentisch erschien im
nachhinein wie eine raffinierte Strategie, mit der die Welt ihn ruhigzustellen,
letztlich immer wieder zu verarschen gedachte. Er mußte irgend etwas tun, um
das Gefühl zu haben, noch am Leben zu sein. Er brauchte einen Plan. Kurz vor
Mitternacht erklärte er seinen Austritt aus dem Club, was mit genau jener
Bestürzung aufgenommen wurde, auf die er spekuliert hatte. Fast zehn Minuten
lang wurde er bestürmt, sich die Sache doch noch einmal zu überlegen. Danach
kehrte schnell Ruhe ein.
    »Wer isn das?«
    Sonja stand in der Tür ihres Zimmers und deutete auf den jungen
Araber, der eben die Wohnung betreten wollte.
    »Warum schläfst du denn nicht?« Swentja wurde wütend auf ihre
fünfjährige
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