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Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition)

Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition)

Titel: Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition)
Autoren: David Vogel
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zurechnete. Statt einer Antwort blies er ihr einen Mundvoll Zigarettenrauch ins Gesicht und nahm sein Bündel.
    Die Stadt bereitete sich schon auf den Frühling vor. Die letzten Eisschollen trieben auf dem Fluss vorüber. Doch in der Speisegaststätte Achdut des Herrn Stock – ein Gemisch aus Beisel, Restaurant, Herberge und Kaffeehaus, »streng koscher« – konnte man ein Glas Tee für vier Heller trinken und sich, inmitten von Tabaksqualm der billigen Sorte, penetranten Küchendünsten, Geschrei und Diskussionen den ganzen Tag gratis wärmen. Hier saß Michael Rost an einem großen Tisch, seine Nachbarn tranken dampfenden Tee und aßen Rosinenkuchen. Ein ausgemergelter, spitzbärtiger Jude trank aus und rückte den Kneifer auf der Nase zurecht.
    »Wohin?«, sprach er Rost an. »Nach Amerika?«
    »Vielleicht …«
    »Die Agentur hat also auch Sie betrogen – das Feuer soll sie holen! Von der Grenze aus geradewegs bis nach Rotterdam, so war es versprochen – und jetzt hält sie einen hier auf, damit man seine letzten Groschen verbraucht! Renn mal einer jeden Tag dem Agenten hinterher! Und Sie, junger Bursche, nach Boston oder Philadelphia? Wen haben Sie denn dort?«
    »Ich hab dort niemand.«
    »So, mutterseelenallein?«
    »Mutterseelenallein.«
    »Und wann läuft Ihr Schiff aus?«
    »Ist schon ausgelaufen.«
    »Schon ausgelaufen? Wollen Sie den großen Teich zu Fuß überqueren?!«
    »Ich gehe nicht über den großen Teich.«
    »Sie fahren also nicht nach Amerika? Nun reden Sie doch! Warum schweigen Sie denn! Sieh dir diesen Flegel an! Du sprichst ihn als Menschen an, und er antwortet dir wie eine Bestie. Und was denn? Wollen Sie mir sagen, dass Sie hierbleiben?«
    »Sie haben’s erraten«, lachte Rost, »ich bleibe hier.«
    »So, er bleibt hier! Da können Sie Ihre Zähne gleich verkaufen – die werden Sie hier nicht mehr brauchen! Diese Stadt ist ein hartes Pflaster! Das ist nicht Amerika, wo jeder nach Belieben reich werden kann. Sie werden sehen und noch an meine Worte denken, ich weiß, was ich sage. Haben Sie den Namen Jankel Marder schon mal gehört? Nie gehört? Das hier ist der Mann!« – Er tippte sich an die Brust – »Berühmt von Mohilow bis Odessa, in allen Regionen der Ukraine! Wenn Jankel Marder etwas sagt, können Sie’s blindlings unterschreiben!«
    Jankel Marder hatte sich immer noch nicht beruhigt. »Und was wollen Sie, Ihren Worten zufolge, hier anfangen, beispielsweise?«
    »Ich werde eine Frau heiraten, zum Beispiel …«
    »Eine Frau wollen Sie heiraten? Was sagst du dazu, Schewtel?«, wandte er sich an einen langen Lulatsch im schwarzen Russenkittel, dessen Adamsapfel auf und ab lief, während er emsig damit beschäftigt war, sich mit einem Taschenmesser die Nägel zu stutzen. »Eine Frau will er heiraten! Wer wird Ihnen denn eine Frau geben, Sie Grünschnabel?!«
    »Man wird.«
    »Lassen Sie den Unsinn! Schade um einen Burschen wie Sie, Sie werden hier versacken! Ich rate Ihnen, nach Amerika zu fahren. Sie werden es nicht bereuen! Dort werden Sie ein gutes Leben haben, werden leben wie ein Fürst, wie ein König! Wissen Sie, was Amerika ist?! Fragen Sie mich, und ich sag es Ihnen! Die Dollars rollen dort auf den Straßen. Sie brauchen nur die Hand auszustrecken und sie aufzulesen! Die dummen Yankees werfen das Geld zum Fenster raus, und Sie gehen hin und heben es auf, so ist das in Amerika!«
    »Wo haben Sie das denn her? Waren Sie schon mal dort?«
    »Was tut das zur Sache? Wer weiß denn nicht, wie es in Amerika zugeht?! Ein Wickelkind weiß es! Hier, schauenSie!« Er zog ein Bild aus der Jackentasche und wedelte Rost damit vor den Augen herum. »Sehen Sie? Mein Bruder! Mein eigen Fleisch und Blut, reich wie ein Krösus!« Das Bild zeigte einen jungen Mann mit Melone auf dem Kopf und Zigarette im Mund. »Erst vor drei Jahren ist er dort eingewandert, und jetzt – Millionär! Wenn er will, kann er Ihnen den Zarenpalast kaufen!«
    »Was quatschen Sie ihm denn da von Amerika vor, Mister?«, mischte sich ein Bursche mit drei Goldzähnen vom Nebentisch ein. Er hatte eine Knollnase, vorquellende Fischaugen, einen Dreitagebart und eine sehr raue Stimme. »Ich bin dort gewesen, in Ihrem Amerika – soll die Erde es verschlingen! Amerika, hahaha! Nach Amerika geht er! Der Mensch sollte sich lieber tief in der Erde begraben lassen, als in dieses verfluchte Land zu gehen! Hören Sie auf meinen Rat, Mister. Gehen Sie zu der Agentur, dass man Ihnen das Geld für die Schiffspassage erstattet,
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