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Eine unberührte Welt - Band 4 (German Edition)

Eine unberührte Welt - Band 4 (German Edition)

Titel: Eine unberührte Welt - Band 4 (German Edition)
Autoren: Andreas Eschbach
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Derb, schmatzend. »Als Hund muss man nichts tun, nichts werden, nichts vortäuschen – man lebt einfach. Man kann so sein, wie man ist, ohne dass einer an einem rummeckert. Wenn ich früher mal was gesagt hab, dass ich irgendjemanden nicht leiden kann zum Beispiel – gleich hieß es, das darf ich nicht sagen, das sei ungezogen, ich sei ein schlechter Mensch und so weiter. Wenn man ein Mensch ist und nicht so denkt und redet, wie es die andern von einem erwarten, dann ist man immer der Arsch. Dann heißt es gleich, etwas stimmt nicht mit einem. Sobald man sagt, was man wirklich denkt, dann kann einen keiner mehr leiden. Als Hund« – Juliusriss ein Stück Brot entzwei, um den leergegessenen Teller bis zu den Rändern auszuwischen – »knurrst du einfach jeden an, den du nicht leiden kannst, und dann hat der ein Problem, nicht du. Du bist ja ein Hund; kein Mensch erwartet von einem Hund, dass er höflich ist, sich verstellt oder einem nach dem Mund redet. Als Hund darf man genau so sein, wie man eben ist, und wenn einer damit nicht zurechtkommt, kann’s einem scheißegal sein. Man kriegt sein Fressen trotzdem.«
    Lena starrte ihn an. »Du bleibst freiwillig ein Tier …? «
    »Das ist echt viel besser«, versicherte ihr der Junge. »Meine Mutter liebt mich erst, seit ich ein Hund bin.«
    Liebe. Natürlich. Das war der Schlüssel.
    Was auch sonst? Lena nickte unwillkürlich. Letzten Endes verhielt es sich doch wie in den Märchen. Mit dem einzigen Unterschied, dass der Fluch in der Lieblosigkeit von Julius’ Mutter lag, was vielleicht noch schlimmer war als der Bannspruch eines bösen Magiers …
    War es das? Rief das Schicksal sie wieder einmal, so, wie es sie damals zurück nach Hause gerufen hatte, sich um ihren Vater zu kümmern? Rief es sie diesmal, diesem Jungen beizustehen? Ihm ins Gewissen zu reden? Ihm klarzumachen, dass es eine Sünde war, freiwillig als Tier zu leben, wenn man als Mensch geboren war?
    »Julius.« Sie sah ihm ernst in die Augen, die groß und dunkel waren, fast wie Hundeaugen. »Du bist ein Mensch. Du kannst doch nicht freiwillig das Dasein einer niedrigeren Lebensform wählen!«
    Der Junge schüttelte den Kopf. »Ist gar kein Problem, ehrlich. Umgekehrt geht es wahrscheinlich nicht, denk ich, aber ich – ich hab die freie Auswahl.«
    Die Leichtfertigkeit, mit der er das sagte, machte Lena sprachlos. »Aber … aber fehlt dir denn da nicht was? Ich meine …« Sie hob die Hände, betrachtete sie, spreizte die Finger. »Das zum Beispiel. Als Hund hast du nur Pfoten. Du kannst nichts greifen, kannst vielleicht gerade mal eine Türklinke drücken … In deinem Alter will man doch am Computer spielen, oder? Man will ein Handy haben, man will … was weiß ich, mit Freunden ins Kino gehen … Das entgeht dir alles. Das ganze Leben.«
    Sein Blick hatte sich verdüstert. »Ich hätte ohnehin kein Handy gekriegt.«
    Auf ihn einzureden würde nicht genügen, erkannte Lena. Das Schicksal verlangte mehr von ihr, als ihm Ratschläge zu geben. Genau wie es damals nicht damit getan gewesen wäre, Vater ein Kochbuch zu schenken oder ihm zu erklären, wie man Nudeln kochte.
    Was, wenn sie Julius anbot, künftig bei ihr zu leben? Freilich, in der Nachbarschaft seiner Eltern würde das nicht gehen, aber wenn sie das Haus verkaufte und sie gemeinsam fortgingen, irgendwohin, wo man sie nicht kannte, wo man sie einfach für Mutter und Sohn halten würde …?
    »Wissen Sie«, drängte es den Jungen zu erklären, »man denkt ganz anders, wenn man ein Tier ist. Nicht wie ein Mensch. Eigentlich«, korrigierte er sich mit einem heftigen Kopfschütteln, »denkt man überhaupt nicht. Das ist schwer zu beschreiben – es ist, als wäre da gar nichts zwischen einem und der Welt. Man ist einfach. Man fühlt. Man hat Gefühle, aber man macht sich keine Sorgen. Man weiß nicht mal, was das ist, Sorgen. Es gibt nur den Moment. Man rennt oder man ruht sich aus, je nachdem, wie einem zu Mute ist, man beobachtet, man riecht … Mann, was man als Hund riecht! Das ist überhaupt nicht zu beschreiben. Das Riechen haut einen um … Wobei, eigentlich auch wieder nicht – als Hund kommt es mir überhaupt nicht ungewöhnlich vor, nur jetzt, wenn ich daran denke … Es ist wirklich nicht zu beschreiben. Das muss man erlebt haben. Alles hat seinen ganz eigenen Geruch, man kann alles voneinander unterscheiden, und alles ist stark und gewaltig … Manche Düfte sind so groß wie Gemälde, lassen einem das Herz rasen, regen einen
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