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Eine unberührte Welt - Band 2 (German Edition)

Eine unberührte Welt - Band 2 (German Edition)

Titel: Eine unberührte Welt - Band 2 (German Edition)
Autoren: Andreas Eschbach
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endlich. Ich warte auf euch; verzweifelt warte ich.
    Sie sah zu, wie ihr Atem zu Nebel wurde. Bald würde er zu Eis werden und mit leisem Klirren zu Boden fallen. Klirrende Kälte nannte man das; sie hatte davon gelesen. Und nun erlebte sie es.
    Eine Stimme drang, endlich, durch das alles aufsaugende Rauschen des Sonnensturms, leise und unverständlich zuerst, bis die intelligenten Filterstufen sie zu fassen bekamen und wie durch Zauberei hörbar und verständlich machten. »Hier spricht die T.S.S. HOMELAND, Commander Esteban. Wir empfangen Sie wieder, Joan, bitte bestätigen.«
    Eine jähe, schmerzhafte Freude durchzuckte sie. »Bestätige!«, rief sie. »Ich kann Sie klar und deutlich verstehen, Marko!«
    »Schön, Sie zu hören, Joan. Wie ist Ihre Lage?«
    Sie zog die Steuereinheit der Lebenserhaltungssysteme in den Lichtkegel ihrer kleinen Lampe. »Energiereserven sind auf 2,3 Einheiten. Sauerstoffreserve auf 0,8.« Sie hatte das Gefühl, dass ihre Stimme zitterte. Vielleicht von der Kälte, die sich durch ihren Thermoanzug fraß. Bestimmt von der Kälte.
    »Bestätige. Energie zwo-drei, Sauerstoff null-acht – Wasser?«
    Er klang sachlich, geschäftsmäßig. Als sei alles normal. Joan spürte einen Stich angesichts seiner Gedankenlosigkeit.
    »Marko«, sagte sie leise, »dies ist der Jupitermond Europa. Ich sitze auf einer hundert Kilometer dicken Eisschicht. Wasser ist nicht das Problem.«
    Sie hörte ihn schlucken. Sie kannte Marko Esteban von einem der Lunartreffen – ein junger, drahtiger Frachterkommandant mit Ehrgeiz nach mehr. Sie sah ihn beinahe vor sich.
    »Entschuldigen Sie«, sagte er verlegen. Dann, nach einer Pause: »Ich gebe die Werte weiter. Wir rechnen das durch.«
    Es sollte beruhigend klingen, aber es klang nicht mehr beruhigend. Joan spürte die Angst wie einen dicken, zähen Klumpen im Bauch. Sie atmete tief ein. Die kalte Atemluft biss in der Nase.
    »Marko«, fragte sie und wunderte sich über die Ruhe in ihrer Stimme, »ihr werdet es nicht mehr rechtzeitig schaffen, nicht wahr?«
    »Wie gesagt, wir müssen alles nochmal durchrechnen …«
    »Marko-«
    Pause. Lange, abgrundtiefe Pause zwischen den Sternen. Dann hörte sie Schmerz in der Stimme von Commander Marko Esteban. »Sie haben recht«, sagte er. »Wir werden es nicht mehr rechtzeitig schaffen.«
    Joan schloss die Augen, ließ ihren Kopf nach vorn sinken, bis die Stirn das kalte Plastik des Kommunikators berührte. In ihr verkrampfte sich alles, sodass sie einen Augenblick fürchtete, sich übergeben zu müssen. Dann ließ es nach. Mehr noch, der Klumpen in ihrem Bauch schien zu schrumpfen, wich einem gelösten, warmen Gefühl. So, als habe ihr Körper eingesehen, dass Angst nichts mehr nützen würde. Die Gesetze der Himmelsmechanik waren unerbittlich in ihrer Klarheit und Berechenbarkeit, und die interplanetaren Flüge waren diesen Gesetzen unausweichlich unterworfen. Der Zeitpunkt, an dem die HOMELAND nach einem Flug über Millionen von Kilometern in die Umlaufbahn um Europa eintreten würde, ließ sich auf die Minute genau vorherberechnen, und nichts in der Welt vermochte an diesem Flugplan etwas zu ändern.
    »Joan?«
    Sie hob den Kopf wieder. »Ist in Ordnung«, flüsterte sie, räusperte sich und wiederholte: »Es ist in Ordnung, Marko. Im Grunde habe ich es die ganze Zeit gewusst.«
    »Es tut mir so leid …«
    »Und mir erst.«
    Schweigen. Er schien etwas sagen zu wollen, wusste aber nicht, was. Plötzlich merkte sie, dass sie eigentlich nur ihm zuliebe wartete; dass sie das Bedürfnis hatte, eine Weile mit sich allein zu sein und kostbare Augenblicke ihres Lebens opferte, weil er sich unwohl fühlte. »Marko«, sagte sie also, »ich schalte jetzt ab. Ich denke, ich melde mich später noch einmal. Machen Sie’s gut.«
    »In Ordnung.« Er schien erleichtert. »Sie auch.«
    Sie schaltete das Gerät ab, legte es beiseite, barg das Gesicht in den Armen und ließ den Tränen freien Lauf.
    Irgendwann – Stunden später, so kam es ihr vor – sah sie sich plötzlich selbst da sitzen, in dem kleinen, aufblasbaren Rettungszelt, das kaum groß genug war, um darin zu stehen, mutterseelenallein auf der endlos weiten Oberfläche des Jupitermondes. Es war ein so seltsames Bild, dass sie aufhörte zu weinen, als erwache sie aus einem bösen Traum.
    Plötzlich hielt sie es nicht mehr aus in der dämmrigen Enge des Zelts. Obwohl es schiere Unvernunft war – jeder Schleusendurchgang verschlang kostbare Energie für die Pumpe und entließ
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