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Eine Studie in Scharlachrot

Eine Studie in Scharlachrot

Titel: Eine Studie in Scharlachrot
Autoren: Arthur Conan Doyle
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Artikel niedergelegt sind, der Ihren Tadel hervorrief, sind bei der praktischen Arbeit von unschätzbarem Wert für mich. Das Beobachten ist mir zur zweiten Natur geworden. Sie waren offenbar überrascht, als ich Ihnen bei unserer ersten Begegnung gesagt habe, daß Sie aus Afghanistan gekommen waren.«
    »Das hat Ihnen sicherlich jemand erzählt.«
    »Nichts dergleichen. Ich
wußte,
daß Sie aus Afghanistan gekommen waren. Aus langer Gewohnheit ist der Denkvorgang in mir so schnell abgelaufen, daß ich zu der Schlußfolgerung gelangt bin, ohne mir der Zwischenschritte bewußt zu sein. Der Denkprozeß lief folgendermaßen ab: ›Hier ist ein Gentleman der medizinischen Sparte, aber mit der Haltung eines Soldaten. Also offenbar ein Arzt der Armee. Er ist kürzlich aus den Tropen gekommen, denn sein Gesicht ist dunkel, und das ist nicht seine normale Hautfarbe, seine Handgelenke sind nämlich hell. Er hat Mühsal und Krankheit durchgestanden, wie sein abgezehrtes Gesicht verrät. Sein linker Arm ist verletzt worden. Er hält ihn unnatürlich steif. Wo in den Tropen könnte ein englischer Armeearzt viel Mühsal erlebt haben und am Arm verwundet worden sein? Natürlich in Afghanistan.‹ Der ganze Denkvorgang hat nicht einmal eine Sekunde gedauert. Ich habe dann bemerkt, Sie kämen aus Afghanistan, und Sie waren verblüfft.«
    »So wie Sie es erklären, ist es ziemlich einfach«, sagte ich lächelnd. »Sie erinnern mich an Dupin von Edgar Allan Poe. Ich hatte keine Ahnung, daß solche Individuen außerhalb von Erzählungen existieren.«
    Sherlock Holmes erhob sich und zündete seine Pfeife an. »Sie glauben sicherlich, daß Sie mir ein Kompliment machen, wenn Sie mich mit Dupin vergleichen«, stellte er fest. »Nun denn – meiner Meinung nach war Dupin ein reichlich minderwertiger Bursche. Dieser Trick von ihm, nach einem viertelstündigen Schweigen mit einer
à-propos
-Bemerkung in die Gedanken eines Freundes hineinzuplatzen, ist doch wirklich ziemlich angeberisch und oberflächlich. Er hatte eine gewisse analytische Gabe, ohne Zweifel; aber er war keineswegs ein so großes Phänomen, wie Poe sich das wohl eingebildet hat.«
    »Haben Sie Gaboriaus Werke gelesen?« fragte ich. »Kommt Lecoq Ihrer Vorstellung von einem Detektiv näher?«
    Sherlock Holmes schnaubte sardonisch. »Lecoq war ein erbärmlicher Stümper«, sagte er mit Ärger in der Stimme; »er hatte nur eins, das für ihn spricht, und zwar seine Energie. Das Buch hat mich wirklich krank gemacht. Es ging darum, einen unbekannten Häftling zu identifizieren. Ich hätte es in vierundzwanzig Stunden tun können. Lecoq brauchte ungefähr sechs Monate. Man könnte daraus ein Lehrbuch darüber schreiben, was Detektive vermeiden sollten.«
    Ich war ziemlich indigniert darüber, zwei Charaktere, die ich bewundert hatte, derart herablassend behandelt zu sehen. Ich ging hinüber zum Fenster und sah hinaus auf die belebte Straße. ›Dieser Bursche mag scharfsinnig sein‹, sagte ich mir, ›aber außerdem ist er auch sehr eingebildet.‹
    »Es gibt heute keine Verbrechen und keine Verbrecher mehr«, beklagte er sich. »Wozu ist es gut, in unserem Beruf ein Gehirn zu haben? Ich weiß, daß ich das Zeug habe, mir einen großen Namen zu machen. Es gibt keinen lebenden Menschen (und hat nie einen gegeben), der die gleiche Menge Wissens und natürlicher Begabung in die Aufklärung von Verbrechen eingebracht hätte wie ich. Und was ist das Ergebnis? Es gibt kein Verbrechen, das der Aufklärung würdig wäre; höchstens stümperhafte Übeltaten mit so durchsichtigen Motiven, daß sogar ein Beamter von Scotland Yard sie durchschaut.«
    Ich war noch immer verstimmt über seine hochfahrende Redeweise. Ich hielt es für das Beste, das Thema zu wechseln.
    »Ich frage mich, wonach dieser Bursche sucht«, sagte ich; ich deutete auf einen stämmigen, einfach gekleideten Mann, der langsam die andere Straßenseite entlang ging und dabei suchend die Hausnummern betrachtete. Er hielt einen großen blauen Umschlag in der Hand und war offensichtlich Überbringer einer Botschaft.
    »Sie meinen den ehemaligen Sergeanten der Marine?« fragte Sherlock Holmes.
    ›Angabe und Aufschneiderei!‹ dachte ich bei mir. ›Er weiß, daß ich seine Raterei nicht verifizieren kann.‹
    Ich hatte diesen Gedanken kaum zu Ende gedacht, als der Mann, den wir beobachteten, die Nummer auf unserer Tür erblickte und schnell die Straße überquerte. Wir hörten lautes Klopfen, dann eine tiefe Stimme im
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