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Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman

Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman

Titel: Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman
Autoren: Wilhelm Genazino
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wurden. Obwohl wir noch nicht zusammen geschlafen hatten, waren wir uns schon einig, daß wir zwei Kinder haben wollten, einen Jungen und ein Mädchen. Wir wollten kein Risiko eingehen. Erst vor einem Vierteljahr hatte Gudruns Schwester Karin heiraten müssen. Zu einer solchen »Bauchhochzeit« (das war Gudruns Wort) waren wir nicht bereit. Es war uns nicht unheimlich, daß wir uns schon jetzt über das Möbelhaus einig waren, in dem wir in einigen Jahren unsere Einrichtung kaufen würden. Vorerst aber, das sagte Gudrun immer wieder, mußte ich eine Lehrstelle finden, und zwar so schnell wie möglich. Da öffnete sich die Tür des Ingenieurbüros, Gudrun trat heraus. Ich sah ihr dabei zu, wie sie auf mich zuging und dabei ein wenig verlegen wurde. Sie war brünett und zierlich gebaut. Kaum war sie an meiner Seite, fragte sie, was ich heute gemacht hatte. Ich verschwieg, daß ich zwei Stunden im Café Hilde war, weil ich nicht den Eindruck eines Herumtreibers hervorrufen wollte. Stattdessen lieferte ich die neueste Fortsetzung eines wirren Großvortrags, der an diesem Nachmittag mit der riesigen Holzkiste begann, in der Thomas Wolfe das Manuskript seines Romans »Von Zeit und Strom« untergebracht hatte. Ich erklärte weitschweifig, welche Arbeit es für Wolfes Lektor Maxwell Evarts Perkins war, aus diesem uferlosen Manuskript einen lesbaren Roman zu machen. Von Thomas Wolfe ging ich über zu Kurt Tucholskys vier Pseudonymen und zu Tucholskys Selbstmord in Schweden. Von Schweden aus war es nicht weit zu dem norwegischen Dichter Knut Hamsun und dessen Hungerleben in Kristiania, das Hamsun mit einer Flucht nach Chicago beendete. Als letzten Dichter behandelte ich heute Franz Kafka. Ich redete über seine Heimatstadt Prag, die ich selbst nur aus Büchern kannte. Meine Ahnungslosigkeit steigerte meine Leidenschaft. Ich redete über Franz Kafka, als würde ich ihn persönlich kennen und als würde ich jeden Tag etwas Neues aus seinem Leben erfahren. Ein bißchen war es auch so. Ich las in dieser Zeit alles, was ich von ihm und über ihn kaufen konnte, und ich gab jedes neue Detail sofort an Gudrun weiter. Manchmal sah ich während des Gehens zu ihr hinüber und lächelte ihr zu, nein, ich kontrollierte ein bißchen, ob sie mir zuhörte oder ob ich sie langweilte. Erst kurz vor der Haustür der Souterrainwohnung endete mein heutiger Vortrag. Ich ging mit Gudrun in den Hausflur und küßte sie mit einer Erregung, von der wir glaubten, sie sei ein Zeichen unserer Liebe und unserer Zukunft. In Wahrheit ahnte ich, daß ich durch Gudrun hindurchküßte und im Hintergrund Franz Kafka dafür dankte, weil er mich wieder so lebendig gemacht hatte.
    Schon eine Woche später stellte mich Mutter erneut in Personalbüros vor. Am Dienstag gingen wir in eine Süßwarenhandlung, am Mittwoch in eine Reifenfabrik und am Donnerstag in eine Brauerei. Es war ganz offenkundig gleichgültig, welchen Beruf ich ergriff und welche Firma mich einstellte. Weihnachten rückte näher, und ich hatte noch immer keine Aussicht auf eine Lehrstelle. Damals malte und zeichnete ich auch gerne. Deswegen präsentierte mich Mutter auch in ein paar grafischen Betrieben und kleinen Werbeateliers. Sie glaubte, ich würde dort irgendwie zum Künstler ausgebildet werden können. Diese Naivität rührt mich heute sehr. Obwohl Mutter fast immer mit ihren eigenen Lebenskränkungen beschäftigt war, erkannte ich in dieser Einfühlung doch ihre Zärtlichkeit für mich. Leider machte ich auch in den Grafikbetrieben und Werbeateliers keine gute Figur. Dabei wäre es in dem Werbeatelier SIGNUM beinahe zu einer Einstellung gekommen. Der Chef hatte sich überraschend für meine Zeichnungen interessiert, und ich war ebenso überraschend bereit, über die Verwendbarkeit dieser Zeichnungen als Werbevorlagen ein paar Sätze zu sagen, die den Chef aufmerken ließen. Aber dann machte der Chef einen schrecklichen Fehler. Er öffnete, während er meine Zeichnungen betrachtete, eine Flasche Kakao, trank sie halbleer und stellte sie auf seinem Arbeitstisch ab. Sofort ekelte ich mich vor der halbleeren Flasche. Immerzu liefen neue braune Schlieren an der Innenseite der Flasche hinab. Es gelang mir nicht, die Flasche zu ignorieren. Stattdessen beobachtete ich, wie Kakaotropfen zu kleinen Rinnsalen zusammenflossen, und verstummte dabei. Ich merkte nicht einmal mehr, daß der Chef weitere Fragen an mich richtete. Es war klar, daß ich nach diesem Einbruch auch in diesem Atelier leer ausging.
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