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Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman

Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman

Titel: Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman
Autoren: Wilhelm Genazino
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ich mich hier herumtrieb, nach einem sogenannten Literaten-Café gesucht. In Büchern hatte ich immer wieder gelesen, daß sich Schriftsteller in Cafés treffen und dort sogar schreiben. Leider war meine Suche ohne jedes Ergebnis geblieben. Es gab in meiner Stadt weder Literaten-Cafés noch Schriftsteller. Immerhin hatte ich bei der Suche ein paar Cafés kennengelernt, zum Beispiel das Café Hilde, das ich jetzt wieder betrat. Es war ein großer, düsterer Raum mit dunkelbraunen Tapeten und ein paar tiefhängenden Kugellampen. Das Café Hilde (und ein erheblicher Teil seiner Besucher) war aus der Nachkriegszeit übriggeblieben. Es roch nach geronnener Milch, nach Kakaopulver, nach Holz und Kuchenresten. Die einzige Bedienung war eine ältere, stark überschminkte Frau. Sie trug schwarze Wollsocken über den Nylonstrümpfen und Schuhe aus Goldlamé. Über ihre Hüften spannte sich ein knapper Rock und ein langer, ebenfalls zu enger Pullover. Von Zeit zu Zeit ging sie hinter die Theke und zog sich die Lidschatten nach. Ich setzte mich in den hinteren Teil des Cafés, wo ich die Theke und den Eingang im Blick hatte. Außerdem lag rechts von mir die sogenannte Lese-Ecke. Ich suchte vage nach neuen Zeitschriften, denen ich meine Texte schicken wollte. Wenn ich eine gefunden hatte, die mir vielversprechend erschien, notierte ich mir die Redaktionsadresse. Auf der Theke drehte sich eine Runde, verglaste Kühlbox, in der, verteilt auf drei Etagen, vier angeschnittene Torten untergebracht waren. Zwei kleine Neonröhren drehten sich mit und tauchten alle Torten in ein einheitliches Bahnhofslicht. Oft, wenn sie wenig zu tun hatte, stellte sich die Bedienung neben die Kühlbox und blickte den sich drehenden Torten nach. Ich sah immer wieder hin und konnte doch nicht klären, warum mich dieses Arrangement fesselte. Eine Frau mit Kind erschien im Café und suchte in meiner Nähe einen Tisch. Die Frau trug eine Einkaufstasche, aus der oben zwei Fische herausschauten. Die Fische, zwei Heringe, waren in Zeitungspapier eingewickelt, aber das Papier war, von der Frau offenbar unbemerkt, zur Seite gerutscht. Deswegen schimmerten jetzt zwei goldgelb geräucherte Heringe unter dem Tisch der Frau hervor. Das Kind sagte zu der Frau: Du bist die allerbeste Mutter, die es gibt. Die Frau war gerührt und schaute zu mir. Ich gab ihr ein Zeichen, daß ich den Satz des Kindes mitgehört hatte und daß ich ihre Rührung verstand. Keine halbe Minute später wollte ich schreiben. Ich nahm einen Briefumschlag aus meiner Jackentasche und beschrieb das sich hier ereignende Szenario. Mit der Mutter und dem Kind fing ich an. Das Kind sagte zu der Frau: Du bist die allerbeste Mutter, die es gibt. Die Frau war gerührt und schaute zu mir. Das Kind sprach, schrieb ich, als hätte es Erfahrungen mit vielen Müttern gesammelt und als sei die eigene Mutter aus vielen Prüfungen als die beste hervorgegangen. Plötzlich befremdete mich mein Text. Es gefiel mir nicht, daß ich das Kind kritisierte. Hatte ich die kleine Szene beschreiben wollen, um das Denken eines Fünfjährigen zu beanstanden? Ich begann, jeden weiteren Satz, bevor ich ihn niederschrieb, danach zu befragen, ob er schön war oder nur aufrichtig, oder vielleicht nur schön, aber nicht aufrichtig; oder intelligent, dafür aber traurig; oder vielleicht schön und traurig, aber leider nicht wahr; oder nur wahr, aber nicht schön; oder nur eindrucksvoll, aber weder schön noch wahr; oder nur interessant, aber nicht eindrucksvoll und nicht wahr und nicht einmal schön. Kurz darauf beendete ich das Schreiben im Café. Ich schaute ein wenig erschöpft in die Runde. Die Einzelheiten gefielen mir, je länger ich sie betrachtete (die braunen Tapeten, die gelben Kugellampen, die sich drehenden Torten, die schwarzen Wollsocken, die goldglänzenden Fischköpfe), aber es war mir vorerst nicht möglich, den wundersamen Frieden, der von ihrem grotesken Nebeneinander ausging, in ein paar beiläufigen Sätzen einzufangen.
    Vier Stunden später wartete ich an einer Tankstelle im Industriegebiet auf den Feierabend von Gudrun. Sie war drei Jahre älter als ich und arbeitete als Sekretärin in einem Ingenieurbüro. Ihr Vater war aus dem Krieg nicht nach Hause gekommen, sie wohnte zusammen mit ihrer Mutter in einer kleinen Souterrainwohnung. Obwohl wir uns noch nicht lange kannten, hatten wir bereits ein gemeinsames Sparbuch, in das jeder von uns jeden Monat fünfzehn Mark einzahlte, wofür wir von Gudruns Mutter gelobt
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