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Ein weißes Land

Ein weißes Land

Titel: Ein weißes Land
Autoren: Sherko Fatah
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immer uns auch trennen mochte in der Vergangenheit und in der Zukunft, in den Büchern und in den sieben Himmeln – in diesem Moment gab es nur den Fahrtwind und das gleißende Licht, das die Fetzen von Dampf zu verschlingen schien, gab es nur uns und wir waren eins. Ezra packte meine Hand und ich zog ihn herauf. Zusammengedrängt, die Rücken an die heißen, vibrierenden Beschläge der Waggontür gepresst, sahen wir vorbeifliegende Hügel, all die aufgesprungene, verdorrte Erde und den im Dunst weißglühenden Horizont und wir schrien nicht gegen, sondern mit dem berauschenden Lärm dieser Maschine, die einfiel in das müde, alte Land, um Kunde zu geben von einem anderen Leben, einer anderen Welt.
    Bevor er die Stadt erreichte, verlangsamte sich der Zug, bis er nur noch dahinschlich. Wir sprangen ab, ließen die Waggons und die Gesichter in den schmutzigen Fenstern an uns vorüberziehen. Widerwillig beruhigten wir uns.
    Kurz darauf hatte uns die Gegenwart wieder. Ein Bild des Elends tat sich in der Ebene vor uns auf. Ausgemergelte Ziegen, kaum mehr als Haut und Knochen, streunten zwischen Abfallhaufen und den aus Schutt und Holzresten erbauten Behausungen. Nur mit dem Leinen aufgeschnittener Reissäcke bedeckt, lagen Kranke in den Gassen. Ihre erstarrten Gesichter wiesen zum Himmel, heller Staub hatte sich auf sie gelegt, es war, als würden sie allmählich vom Boden, auf dem sie lagen, verschluckt. Viele der Frauen gingen krumm unter ihren schwarzen Umhängen, die Kinder saßen apathisch im Schatten der Hütten. Dieses illegale Viertel hatte sich inzwischen erstaunlich weit ausgedehnt. Und doch herrschte über der Ebene eine beängstigende Stille. Niemand dort unten schien etwas zu tun, selbst die Kraft zum Reden hatte diese Leute verlassen.
    »Siehst du das?«, sagte Ezra plötzlich und ich konnte hören, welche Mühe ihm das Sprechen bereitete.
    »Ja«, antwortete ich. »Aber warum sind wir hierhergekommen?«
    »Ich wollte dir etwas zeigen«, erwiderte Ezra. »Wann warst du zum letzten Mal hier?«
    Ich überlegte, konnte mich aber nicht erinnern.
    »Weißt du, dass wir nur ein paar Kilometer vom Haus meiner Familie entfernt sind?«
    Ich nickte, obwohl mich die Tatsache insgeheim doch erstaunte.
    Ezra breitete theatralisch die Arme aus. »All diese Menschen leben jeden Tag, den du lebst, ohne dass du sie bemerkst. Aber sie sind da. Schau hin. Und sie werden immer mehr.«
    Ich sah die Schwärme von Krähen über den Abfallhaufen, sah, wie sie landeten und immer wieder aufgescheucht wurden von den halbverhungerten Hunden, die suchend umherstreiften, und wusste mit den Worten Ezras nichts anzufangen.
    »Ja«, sagte ich schließlich. »Man kann nichts dagegen tun, irgendwo müssen sie bleiben.«
    »Darum geht es nicht«, erwiderte Ezra heftig. »Du begreifst nicht, dass sie die Zukunft dieses Landes sind.«
    »Die dort?« Beinahe hätte ich aufgelacht bei diesem Gedanken.
    »Glaubst du nicht, dass auch sie in richtigen Häusern leben und sauberes Wasser trinken wollen? Glaub mir, bald schon werden sie sich dieses Recht erkämpfen. Ich war oft hier in den letzten Jahren. Ich habe gesehen, wie sie mit jedem Monat mehr wurden. Erst kommt der Mann, in Lumpen gekleidet, das Gesicht vom Sand verklebt. Er kommt an, bleibt aber abseits, schläft auf dem nackten Boden hinter einem der Müllhaufen. Er weiß nämlich, dass die anderen ihn fortjagen werden. Wie ein Rudel Wölfe dulden sie niemanden, mit dem sie teilen müssten. Aber das Rudel besteht nur aus Schwachen und Kranken, sie haben einfach nicht genug Kraft. Und so wartet der Mann ein wenig, kommt mit den Leuten ins Gespräch, hält sich aber weiterhin abseits. Er teilt mit ihnen, was er vom Betteln, Schuheputzen, Kippensammeln oder von der Müllsuche in der Stadt mitbringt. Und irgendwann ist er einer von ihnen, niemand hat es bemerkt und inzwischen ist es auch egal. Dann kommt seine Familie nach, und derweil hat er schon die Stelle gefunden, an der er seine Hütte bauen wird. Er hat sie mit Abfall markiert. Es ist seine Stelle, alle anderen haben sich daran gewöhnt. Auf diese Weise entsteht ein Stadtviertel, verstehst du, irgendwann eine ganze Stadt. Sie werden viele sein und natürlich bleiben sie nicht hier draußen. Sie kommen in unsere Viertel.«
    »Man wird sie davonjagen.«
    »Sie werden ihr Recht fordern«, sagte Ezra. »Und wir, wir werden mit ihnen teilen müssen. Es ist gar nicht nötig, das alles wie Ephraim in den Büchern nachzulesen. Man braucht nur
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