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Ein toter Lehrer / Roman

Ein toter Lehrer / Roman

Titel: Ein toter Lehrer / Roman
Autoren: Simon Lelic
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die Aufmerksamkeit des Publikums, und trotz des Nachzüglers, der die Aula betritt, setzt er seine Rede unbeirrt fort. Travis musste ihn zur Tür hereinkommen gesehen haben, und einige der Lehrer sicher auch, auch wenn sie nicht erkannt haben können, was er in der Hand hielt. Die Kinder in der letzten Reihe drehten sich vielleicht um, sahen vielleicht sogar die Waffe, aber sie nahmen mit Sicherheit an, dass es sich um eine Attrappe handele, dass seine späte Ankunft inszeniert und auf irgendein Stichwort von Travis’ Ansprache abgestimmt sei. Schließlich passte die Waffe zum Gegenstand der Ansprache. Das Thema des Tages war Gewalt.
    Sie vollzog seine Schritte nach, so gut sie konnte, ging die hintere Wand der Aula entlang und dann um die Ecke in Richtung Podium. Auf halbem Weg nach vorn blieb Lucia stehen und blickte in den Raum, dorthin, wo die Schüler gesessen haben mussten.
    Er war sicher ungeübt gewesen im Umgang mit Waffen. Er konnte schlecht zielen, sein Opfer hatte sich plötzlich bewegt, und die Waffe war nicht justiert. Und so wurde Sarah Kingsley, elf Jahre alt, als Erste getroffen. Sie sollte als Letzte sterben. Lucia fragte sich, ob er nach dem Abdrücken überhaupt realisiert hatte, was er da getan hatte. Ob es bis zu ihm durchgedrungen war. Vor ihren Füßen war Sarahs Blut. Die Blutspur im Korridor, der sie gefolgt war, bestand hauptsächlich aus Sarahs Blut. Es war Sarahs Blut an dem Seil.
    Der erste Knall musste gewirkt haben wie ein Ziegelstein, der eine Glasscheibe zerschmettert. Die Stille im Saal musste zersplittert und einer jähen, durchdringenden Panik gewichen sein. Die Kinder waren auseinandergestoben, hatten geschrien. Er hatte sicher versucht, ruhig zu bleiben, inmitten der panischen Menge unnachgiebig stehen zu bleiben und sein Opfer erneut ins Visier zu nehmen. Wieder hatte er geschossen, und wieder hatte er sein Ziel verfehlt. Stattdessen war Felix Abe gestorben, zwölf Jahre alt.
    Zwei von zwei. Die Waffe war ein Museumsstück, keine Halbautomatik. Sie war in schlechtem Zustand. Dass er damit fünf Menschen umgebracht hatte, fünf Menschen mit sechs Kugeln, grenzte in gewisser Weise an ein Wunder. Es war die schlimmste Art von Glück.
    Die Lehrer mussten mittlerweile gestanden haben, zur Reglosigkeit verdammt wie Theaterbesucher, die auf den Rängen feststecken, wenn im Parkett das große Chaos ausbricht. Sie mussten ihn ein drittes Mal schießen und das dritte Kind zusammensinken gesehen haben. Nachdem er dann noch einmal geschossen hatte – seine vierte Kugel und die zweite, die Donovan Stanley traf, fünfzehn Jahre alt –, hatten sie es vielleicht verstanden. Als er sie dann ansah und den ersten Schritt auf die Bühne zuging, hatten sie vielleicht endlich selbst zu fliehen versucht.
    Lucia ging dorthin, wo das letzte Opfer in sich zusammengesackt war – Veronica Staples, die Lehrerin –, unten vor dem Treppchen, das vom Podium hinabführt. Dort waren noch mehr Schuhe, beinahe ordentlich aufgestapelt auf der untersten Stufe. Auch eine Handtasche lag dort, ihr Inhalt war überall verstreut: ein Lipgloss mit zerbrochener Hülle, Kassenbons und Zettelchen, beschmiert und beschmutzt von hektischen Füßen, ein Kuli, eine Trillerpfeife an einem rosa Band und ein halbes Päckchen Polo Mints.
    Sie drehte sich um und musterte dabei den Boden, und sie sah, wo er den sechsten Schuss abgefeuert hatte, das letzte Projektil im Magazin, und wo sein Blut an die Wand gespritzt war. Der Putz, einst gelb, hatte eine Einschlagstelle von der Kugel und von Knochen. Auch Haare klebten dort, wo sein Kopf gegen die Wand geprallt und zur Sockelleiste gerutscht war, ganze Strähnen. Sie ging in die Hocke und stellte sich vor, auf gleicher Höhe mit ihm zu sein, ihn anzuschauen und in seinen leblosen Augen das Blutbad gespiegelt zu sehen, das er angerichtet hatte.
    Schließlich kehrte sie die Reihenfolge um und ging dorthin, wo Sarah, das erste Opfer, erschossen worden war. Die Szene spielte sich in ihrem Kopf ab wie eine DVD im Rückwärtslauf. Die Kugeln flogen zurück, die Stühle kippten aufwärts und standen wieder, und das Blut floss dorthin zurück, wo es hingehörte. Die Kinder nahmen ihre Plätze ein, die Lehrer senkten den Blick, und Samuel Szajkowski ging rückwärts aus dem Raum hinaus.
     
    Draußen war es wärmer als drinnen. Sie trat hinaus auf den Schulhof und kam sich vor, als betrete sie eine Rollbahn in den Tropen. Die Polizisten, beide groß und beleibt, hatten rote Wangen und
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