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Ein toter Lehrer / Roman

Ein toter Lehrer / Roman

Titel: Ein toter Lehrer / Roman
Autoren: Simon Lelic
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schwitzten. Sie hatten sich unterhalten und Witze gemacht, und sie grinsten, als sie zur Tür herauskam.
    »Na, haben Sie gefunden, wonach Sie suchten, Detective?«
    Jeden Tag dieselbe Frage. Ein anderer Polizist, aber dieselbe Frage. Sie glaubten, Lucia wäre gerne hier. Sie glaubten, deshalb käme sie immer wieder zurück. Aber sie stellten die falsche Frage. Sie hatte gefunden, wonach sie suchte – wonach zu suchen man sie geschickt hatte –, aber sie hatte noch mehr entdeckt. Die Frage war, was sie jetzt damit anfangen sollte. Und vor allem, ob sie überhaupt irgendetwas damit anfangen sollte.

K önnen Sie sich vorstellen, Detective Inspector May, in welcher Krise sich der Mathematikunterricht in diesem Land befindet?
    Natürlich nicht. Woher auch?
    Werden Sie eine Pension beziehen, Detective? Haben Sie eine Hypothek? Aber Sie zahlen doch sicher Miete. Geld kommt rein, Geld wird ausgegeben. Es wird mehr ausgegeben, als reinkommt, da bin ich sicher. Es ist nicht meine Absicht, ein Urteil zu fällen, Detective, aber das ist bei den meisten Menschen der Fall. Und wollen Sie auch wissen, warum? Ich sage es Ihnen: Weil der Großteil der Erwachsenen in diesem Land kaum in der Lage ist, die eigenen Zehen zu zählen, wenn ihnen beim Hinabsehen nicht ohnehin der Bauch im Weg ist. Das ist seit den sechziger Jahren so, und es wird so bleiben bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag, wenn sich in diesem Land nicht schleunigst etwas ändert.
    Taschenrechner, Handys, PCs, Elektrochips im Gehirn oder welche sogenannten technischen Errungenschaften auch immer man uns als Nächstes aufdrängen wird: Sie alle zerstören die Denkfähigkeit des Menschen. Und die Mathematik – die Addition, Subtraktion, Multiplikation und die schriftliche Division –, die hat als Erstes darunter gelitten. Die Kinder wollen sie nicht mehr erlernen. Die Regierung will keine finanziellen Mittel mehr zur Verfügung stellen. Die Lehrer wollen sie nicht unterrichten. Wozu?, fragen sie. Der Mathematik fehlt der Glamour, Detective. Ist unsexy. Die Kinder scheren sich nicht um Pensionsansprüche. Sie bleiben ewig jung, wussten Sie das etwa nicht? Unsere Minister interessieren sich nicht für rechnerische Fähigkeiten. Sie interessieren sich für Bäume, Recycling und strukturelle Beschäftigungsmaßnahmen für die Armen. Und die Lehrer. Nun ja. Ich fürchte, die Lehrer interessieren sich ausschließlich für sich selbst.
    Die jungen Leute, die Hochschulabsolventen, die hätten die Chance, etwas zu verändern. Sie hätten die Gelegenheit, ein Fach zu unterrichten, aus dem die Schüler wirklich etwas mitnehmen. Aber wenn sie es selbst nicht verstehen, wie sollen sie es dann vermitteln? Und wenn niemand sonst Lust dazu hat, warum sollte es bei ihnen anders sein? Es ist zu anspruchsvoll. Zu schwierig. Der Mathematiklehrer ist infolgedessen eine aussterbende Art, eine gefährdete Spezies, die niemandem einen Rettungsversuch wert ist. Mr. Boardman unterrichtet an dieser Schule schon seit siebenundzwanzig Jahren Mathematik. Seit siebenundzwanzig Jahren, Detective. Können Sie sich irgendjemanden unter vierzig vorstellen, der bereit ist, eine Sache länger als siebenundzwanzig Minuten zu verfolgen? Anwesende ausgenommen, hoffe ich doch. Und wenn Mr. Boardman in den Ruhestand geht, was er eines Tages zweifellos tun wird, mit wem werde ich seine Stelle dann besetzen? Vielleicht finde ich einen Chinesen. Einen Ukrainer, wenn ich Glück habe.
    Stattdessen bekomme ich Geschichtslehrer. Geschichte. Die Lehre von Schwertern, Stupidität und Schande. Genau das Richtige, um einen Heranwachsenden auf seine künftige Verantwortung als Steuerzahler und Staatsbürger vorzubereiten. Wenn ich es zu entscheiden hätte, würden wir dieses Fach nicht anbieten. Wir würden Mathematik, Grammatik, Physik, Chemie und Wirtschaftslehre unterrichten. Aber die Eltern wünschen es. Die Regierung verlangt es. Sie schreiben uns ihre Lehrpläne vor und beauftragen uns, Geschichte, Geographie, Biologie und Gesellschaftslehre zu unterrichten. Wir müssen klassische Literatur lehren.
    Ich frage Sie.
    Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie keine Universität besucht haben?
    Gut. Ich nehme das zurück. Und nun sagen Sie mir doch bitte, was haben Sie studiert? Nein, sagen Sie nichts. Ihr Blick verrät alles. Und in gewisser Weise, meine Liebe, sind Sie ein typisches Beispiel. Was hat Ihnen Ihr Geschichtsstudium gebracht, außer, dass es Sie noch weiter zurückgeworfen hat, als Sie zu Beginn waren? Sie
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