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Ein sicheres Haus

Titel: Ein sicheres Haus
Autoren: Nicci French
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Kleider für zierliche kleine Mädchen zu zwängen), gingen wir immer in der Oxford Street einkaufen. Ich saß oben im Doppeldeckerbus und starrte auf die Menschen-menge, den Schmutz, das Chaos, die Jugendlichen mit den wilden Frisuren, die über die Gehsteige schlenderten, Paare, die sich in den Ecken küßten, die heißen, hellerleuchteten Läden, die ganze Unordnung, den Schrecken und das Entzücken. Ich sagte immer, ich würde Ärztin werden und ins Zentrum Londons ziehen. Während Roberta ihre Puppen anzog, an die Brust drückte, hätschelte und herumtrug, amputierte ich den meinen die Gliedmaßen. Ich wollte Ärztin werden, weil niemand, den ich kannte, Arzt war, weil die Hälfte der Mädchen in meiner Klasse Krankenschwester werden wollte und weil meine Mutter jedesmal die Augenbrauen hob und mit den Schultern zuckte, wenn ich meinen Ehrgeiz erwähnte.
    Für mich bedeutete London Müdigkeit, Aufbruch am frühen Morgen, Spätfilme, Verkehrsstaus, freche Radiosendungen, sobald man nur den Knopf drehte, Schmutz in meinen Kleidern, Hundekot auf den Gehsteigen; bedeutete, daß Männer, die aussahen wie mein Vater, »Doktor« zu mir sagten; bedeutete Vorankommen und Geld auf der Bank, das ich für riesige Ohrringe und unvernünftige Mäntel und spitze Schuhe mit auffallenden Schnallen ausgab; bedeutete Sex mit Fremden an seltsamen Wochenenden, an die ich mich jetzt kaum noch erinnern konnte, bis auf das Gefühl in meinem euphorischen Körper, daß ich Edgware hinter mir gelassen hatte, nicht Edgware als geographischen Ort, sondern das Edgware in meinem Kopf, mit seinen Sonntagsessen und den drei Straßen, durch die man gehen mußte, um irgendwo hinzukommen, wo keine Häuser standen. London bedeutete, Elsie zu haben und ihren Vater zu verlieren. London bedeutete Danny. Es war die Geographie meines Erwachsenwerdens. Als ich nach Stamford hineinfuhr, nachdem ich Elsies Finger von meiner Jacke gelöst und ihre plötzlich geröteten Wangen geküßt und ihr impulsiv versprochen hatte, sie selbst von der Schule abzuholen, vermißte ich London plötzlich wie einen Liebhaber, ein weit entferntes Objekt der Begierde. Obwohl die Stadt mich nach Elsies Geburt eigentlich verraten hatte: Sie war ein Raster aus Spielplätzen und Kinderkrippen, Babysitten und Beratungsstellen für Mütter.
    Ein paralleles Universum, das ich niemals auch nur bemerkt hatte, bis ich es betrat, bis ich wochentags arbeitete, samstags und sonntags einen Kinderwagen schob und Rache schwor.

    Das war es, wovon ich geträumt hatte. Zeit. Ich, allein im Haus, und kein Kind und kein Kindermädchen und kein Danny und kein Terminplan, der in meinem Kopf abschnurrte. Ich hörte ein Miauen und spürte das Kratzen von Krallen an meinem Bein.
    Mit gestrecktem Arm öffnete ich die Dose mit Katzenfutter, füllte Anatolys Napf und schob ihn und den Napf zur Hintertür hinaus. Ein Windstoß blies mir den Geruch von Thunfisch und Kaninchen in Gelee ins Gesicht, was einen würgenden Hustenreiz und Erinnerungen an Seekrankheit auslöste. Wie konnte so etwas gut sein, selbst für eine Katze? Ich wusch Elsies Teller und Becher vom Frühstück ab und machte mir eine Tasse Pulverkaffee mit Wasser, das nicht richtig gekocht hatte, so daß die Kaffeekörnchen auf der Oberfläche schwammen. Draußen fiel Regen auf meinen Garten; die rosa Hyazinthen, die ich gestern so aufregend gefunden hatte, hingen seitlich geknickt in der mit Steinen durchsetzten Erde, und ihre gummiartigen Blütenblätter sahen schlammig aus. Abgesehen vom Geräusch des Regens konnte ich nichts hören, nicht einmal das Meer. Ein Gefühl der Trostlosigkeit beschlich mich. Normalerweise wäre ich jetzt schon seit zwei, vielleicht drei, in Ausnahmefällen sogar vier Stunden in der Arbeit; das Telefon würde läuten, mein Posteingangskorb würde überfließen, meine Sekretärin würde mir eine Tasse Tee bringen, und ich wäre entsetzt darüber, wie rasch der Vormittag verging. Ich schaltete das Radio ein: »Vier kleine Kinder starben bei einem …« und hastig wieder aus. Ich wünschte, jemand hätte mir einen Brief geschickt; selbst Postwurfsendungen wären besser als nichts.
    Ich beschloß zu arbeiten. Die Zeichnung, die Elsie letzte Woche für mich gemacht hatte, als ich mich über die Leere der gelblichen, abblätternden Wände meines Arbeitszimmers beklagt hatte, starrte mich anklagend von der Wand über meinem Schreibtisch an, wo ich sie festgepinnt hatte. Das Zimmer war feucht und kalt, also schaltete ich
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