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Ein Lotterielos. Nr. 9672

Ein Lotterielos. Nr. 9672

Titel: Ein Lotterielos. Nr. 9672
Autoren: Jules Verne
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Harald bei seinem Geschäft Vermögen erwor-
    ben hatte, ist nicht bekannt geworden; sicherlich hatte er
    seinen Sohn Joel und seine Tochter Hulda auf- und erzie-
    hen können, ohne daß den Kindern ihre erste Lebenszeit
    zu beschwerlich gewesen wäre. Außerdem hatte er auch den
    Sohn einer Schwester seiner Frau, Ole Kamp, den der Tod
    seiner Eltern seiner Sorge anvertraute, ganz wie seine eige-
    nen Sprößlinge erzogen. Ohne seinen Onkel Harald wäre
    dieser Waisenknabe unzweifelhaft eines jener armen klei-
    nen Wesen geworden, die nur zur Welt kommen, um sie
    baldigst wieder zu verlassen. Ole Kamp erwies seinen Pfle-
    geeltern dafür auch eine wahrhaft kindliche Dankbarkeit,
    und nichts sollte je imstande sein, die Bande zu sprengen,
    die ihn mit der Familie Hansen verknüpften. Im Gegenteil
    sollte seine Verheiratung mit Hulda diese nur noch enger
    schließen und für das Leben befestigen.
    Harald war nun vor 18 Monaten gestorben. Außer dem
    Gasthaus in Dal hinterließ er seiner Witwe noch einen klei-
    nen, auf dem Berg gelegenen »Säter«. Der Säter ist eine Art
    einzeln liegender Farm von im allgemeinen geringen, oft
    ganz verschwindendem Ertrag. Gerade die letzten Monate
    waren ziemlich ungünstig gewesen. Alle Kulturen hatten
    darunter zu leiden gehabt, selbst die bloßen Weiden, und
    zwar infolge jener »eisernen Nächte«, wie der norwegische
    Bauer sagt, Nächte mit eiskaltem Nordostwind, die Felder
    und Wiesen bis tief hinab ausdörren und schon so man-
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    chen Bauern von Telemarken und Hardanger dem Unter-
    gang nah gebracht haben.
    Wenn Frau Hansen gewiß über ihre Lage klar war, so
    hatte sie darüber doch gegen niemand, selbst nicht gegen
    ihre Kinder, etwas fallen lassen. Von kühlem, schweigsa-
    mem Charakter, war sie natürlich wenig mitteilsam, was
    Joel und Hulda oft genug schmerzlich empfanden. Bei der
    in den nördlichen Gegenden angeborenen Achtung vor
    dem Haupt der Familie hatten sie jedoch stets hierüber die
    größte Zurückhaltung bewahrt, so peinlich ihnen das zu-
    weilen sein mochte. Frau Hansen nahm auch nicht gern Rat
    oder Hilfe an, da sie – nach dieser Seite eine echte Norwe-
    gerin – von der Sicherheit des eigenen Urteils unerschütter-
    lich überzeugt war.
    Frau Hansen zählte jetzt 50 Jahre. Hatte das Alter auch
    ihre Haare gebleicht, so hatte es doch weder ihre hohe Ge-
    stalt gebeugt, noch die Lebhaftigkeit des glänzenden blauen
    Auges verblassen können, dessen Azur sich in den Augen
    ihrer Tochter widerspiegelte. Ihr Teint allein hatte den gelb-
    lichen Schein von Aktenpapier angenommen, und einige
    Falten begannen die freie Stirn zu runzeln.
    »Die Madame«, wie man von den Frauen niederer Stände
    in ganz Skandinavien sagt, trug stets einen großfaltigen
    schwarzen Rock als Zeichen der Trauer, den sie seit dem
    Ableben ihres Gatten Harald noch niemals abgelegt hatte.
    Durch den Ausschnitt ihres Leibchens traten die Ärmel ei-
    nes ungebleichten Leinwandhemdes hervor. Ein dreiecki-
    ges Tuch von dunkler Farbe kreuzte sich über ihrer Brust,

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    hier bedeckt vom Latz der Schürze, die auf dem Rücken mit
    großen Spangen zusammengehalten wurde. Den Kopf be-
    deckte stets ein dichtes Seidenmützchen, eine Art Kinder-
    haube, die man sonst nur selten sieht. In gerader Haltung
    auf dem Holzlehnstuhl sitzend, ließ die ernste Gastwirtin
    von Dal ihr Spinnrad nur aus den Händen, um eine kleine
    Birkenholzpfeife zu rauchen, deren Wolken sie mit einem
    leichten Nebel umgaben.
    Ohne die Anwesenheit der beiden Kinder hätte das Haus
    wirklich einen etwas düsteren Eindruck gemacht.
    Es war ein tüchtiger Bursche, der Joel Hansen. 25 Jahre
    alt, hübsch gewachsen und von großer Gestalt, wie die
    meisten Bergbewohner Norwegens, bewahrte er einen stol-
    zen Ausdruck ohne Zumischung abstoßender Windbeute-
    lei, und eine entschlossene Haltung ohne Furchtsamkeit.
    Neben dunkelblondem, fast kastanienfarbenem Haar hatte
    er tiefblaue, fast schwarze Augen. Sein Anzug ließ die brei-
    ten Schultern, die sich nicht leicht beugten, günstig hervor-
    treten, ebenso die mächtige Brust, in der ein paar Bergfüh-
    rerlungen ruhig funktionierten, die kräftigen Arme und die
    Beine, die zu den beschwerlichen Besteigungen der hohen
    Fjelds von Telemarken wie geschaffen schienen. So wie man
    ihn für gewöhnlich sah, mußte man den jungen Mann für
    einen Kavalier halten. Sein mit Schulterlätzen versehenes
    bläuliches Jackett, das an der Brust eng
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