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Ein Jahr im Frühling (Cappuccino-Romane) (German Edition)

Ein Jahr im Frühling (Cappuccino-Romane) (German Edition)

Titel: Ein Jahr im Frühling (Cappuccino-Romane) (German Edition)
Autoren: Martina Nohl
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anzustarren.
Gleichzeitig tat es ihr gut zu sehen, dass auch andere jüngere Menschen
trauerten. Vor Freds Tod hatte sie Trauer immer in die Schublade für ältere
Menschen gesteckt.
    Sie besann sich auf das,
wozu sie eigentlich hergekommen war. Sie wollte doch in Ruhe über ihren
ersten Monat in Heidelberg nachdenken. Doch irgendetwas in ihr wollte nicht zur
Ruhe kommen, ein seltsamer Erregungszustand hatte sie befallen. Sie legte ihre
Tagebuchkladde zur Seite und sah auf. Direkt vor ihr lief der Mann mit dem
Lockenkopf vorbei. Ihre Augen begegneten sich einen Moment lang, er nickte ihr
kurz zu und ging weiter den Berg hinauf. Emilys Herz setzte für einige Schläge
aus und lief dann ein wenig holprig wieder an. Gut, dass sie bereits saß, sonst
hätte sie sich jetzt setzen müssen. Welch ein Mann! Fast aztekisch sah er aus
(oder so, wie sie sich Azteken immer vorgestellt hatte) mit breiten
Wangenknochen, einer wunderschön ausgeprägten Nase mit großem Nasenhöcker und
einem breiten Mund mit vollen Lippen. Ganz benommen sah sie ihm hinterher, wie
er weiter in den Wald hineinschritt.
    Halt!, wollte sie rufen warten Sie doch mal kurz, ich wollte
nur sagen, ich bin Emily und Sie sehen wahnsinnig gut und doch so traurig aus.
Wollen Sie sich nicht für einen Moment zu mir setzen? Leider konnte sie aber
nur wie ein Stockfisch sitzen bleiben, steif, stumm und kopflos ganz abgekommen
von dem, worüber sie hier ursprünglich nachdenken wollte. Dafür sinnierte sie
noch eine Weile über unerfüllte Sehnsucht und Einsamkeit. Sie dachte an die
verpatzten Chancen ihres Lebens und überhaupt, was für ein armes weibliches
Würstchen sie doch war. Doch dann erinnerte sie sich wieder an die Grabinschrift. Wir setzten unseren Fuß in die Luft
und sie trug. Vielleicht gab es auch für sie noch eine zweite Chance
und vielleicht war sie doch nicht so arm dran, wie sie sich gelegentlich
fühlte.
    Sie rappelte sich auf und machte sich an den Abstieg. Für
heute hatte sie genug von Grabesstimmung, und das Nachdenken würde sie eben auf
ein andermal verschieben. In den hochgewachsenen Ahornbäumen und
unbeschnittenen Platanen, die schon kräftig zu grünen begannen, kreischten eine
Horde Vögel, wie um über sie zu spotten. Sie sah nach oben und wollte ihren
Augen nicht trauen: Da turnten mindestens ein Dutzend riesige Wellensittiche
oder so eine Art kleine grüne Papageien auf den Ästen herum, die sich
ankeckerten und einen unglaublichen Radau machten. Was war das denn? Sollte
keiner sagen, dass ihr Leben hier langweilig wäre, es gab immerhin Azteken und
Papageien.
     
    Mühsam hob sie ihren zentnerschweren Kopf von den Armen. Wie
war das noch? Sie wollte doch jetzt endlich ernsthaft mit dem Studieren
anfangen. Sie schnappte sich ihren Collegeblock und setzte sich vor das bereits
aufgeschlagene Buch Eine etwas andere
Einführung in die Soziologie mit dem Untertitel: Ich könnte sie knutschen, die Soziologie ,
das sie heimlich las, um in einfachen Worten erklärt zu bekommen, worum es eigentlich
ging. Danach gedachte sie, eine gute Basis für das Bücherstudium der wirklich
relevanten Bücher zu haben, eine Strategie, auf die sie einigermaßen stolz war.
    Ob das wirklich ihr Ding war, die Soziologie? In Hamburg war
sie einige Male bei einer Laufbahnberaterin gewesen, verzweifelt wie sie mit
ihrer beruflichen Situation war. Und die Studienfächer Soziologie und
Ethnologie waren eine Perspektive gewesen, die sich Emily in der Beratung
erarbeitet hatte. Sicher spielte aber auch der Reiz, doch nochmal Studentin
sein zu dürfen, fast eine größere Rolle als die Inhalte der Studiengänge. Aber
irgendwie hatte sie schon den Ehrgeiz, etwas Anspruchsvolles zu studieren, was
nicht jeder machte. Ethnologie hatte sie dann gleich mal auf nächstes Semester
verschoben, weil sie sich den Einstieg nicht so schwer machen wollte.
     
    Schmunzelnd erinnerte sich
Emily an ihren ersten Vorlesungstag in Heidelberg. Mit etwa zwanzig anderen
Studierenden betrat sie den Hörsaal des soziologischen Instituts in der
Bergheimer Straße. Sie quetschte sich hinter das Schreibbrett außen in der dritten
Reihe und merkte gleich, dass das ein Fehler war, weil sie nun andauernd wieder
aufstehen musste, um andere durchzulassen. Sie hatte zudem den Dreh nicht raus,
ihre neue Tasche aus alten LKW-Planen und die Lammfelljacke zu verstauen, ohne
ständig ihre Schreibutensilien vom Tisch zu fegen, die sie dann wiederum nicht
aufheben konnte, weil sie nicht auf den Boden kam
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