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Ein Jahr im Frühling (Cappuccino-Romane) (German Edition)

Ein Jahr im Frühling (Cappuccino-Romane) (German Edition)

Titel: Ein Jahr im Frühling (Cappuccino-Romane) (German Edition)
Autoren: Martina Nohl
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mit dem komischen Tischchen
vor ihrem Bauch.
    Die Geräusche um sie herum wurden leiser, eine Dame – im
wahrsten Sinne des Wortes eine Dame – betrat den Saal. Kluge Augen funkelten
hinter einer randlosen Brille (das Vorjahresmodell von Silhouette mit
Titangestell) in die Menge. Sie hielt sich außerordentlich aufrecht in ihrem
dunkelblauen Kostüm mit der elfenbeinfarbenen Bluse. Wie sie lange auf den
hohen Absätzen stehen konnte, war Emily ein Rätsel, aber sie machten gute
Beine, das musste sie neidlos zugeben, selbst bei einer schätzungsweise
Sechzigjährigen.
    „Herzlich willkommen in
Ihrem ersten Jahr bei uns in Heidel berg im soziologischen Institut.
Mein Name ist Engels und ich darf Sie
dieses Semester in die Grundbegriffe der Soziologie einführen. Ich gebe
Ihnen nun einen Überblick über die Vorlesungsinhalte.“ Und schon hatte sie eine
Fernbedienung für den Deckenbeamer in der Hand, so dass in ihrem Rücken bald
die erste Seite einer professionell gestalteten Powerpoint-Präsentation
erschien. Eine kleine asiatisch aussehende Studentin knipste die Folie mit
ihrem iPhone, andere taten es ihr gleich. Emily hatte gerade überlegt, ob sie
die Auflistung abschreiben sollte, und kam sich jetzt reichlich altmodisch vor.
Verstohlen sah sie sich um und erblickte mindestens vor jedem zweiten
Studierenden ein aufgeklapptes Notebook, Netbook, Laptop, iPad, Tablet-PC oder
wie die Geräte alle hießen.
    Frau Professor Engels erklärte gerade, dass sie den Gebrauch
von Handys in ihrer Vorlesung nicht wünschte und dass sie ihnen auch empfehlen
würde, das ein oder andere mitzuschreiben, da die Folien erst am Semesterende
vor den Prüfungen ins Netz gestellt würden. Erleichtert atmete Emily auf. Dann
musste sie sich doch nicht genieren, wenn sie das ein oder andere zu Papier
brachte. Während Frau Engels die einzelnen Punkte kurz erläuterte, schaute
Emily sich verstohlen in den Reihen um. Sie war zwar eine der Ältesten, aber
nicht so extrem, wie sie befürchtet hatte.
    Der eine Mann links in der ersten Reihe, der der Professorin
mit halb geöffnetem Mund an den Lippen hing, sich gar immer weiter vorbeugte,
hatte schon graue Schläfen und trug eine richtig altmodische Strickjacke mit
Ellbogenschonern. Was der wohl vorher gemacht hatte und was ihn nun bewog,
Soziologie zu studieren? Hinter ihr hörte sie ein Schmatzen. Sie wandte sich um
und blickte in das abgeklärte Gesicht einer jungen Mutter, die ihr Baby
stillte, wie auch immer sie es trotz der engen Platzverhältnisse an ihre Brust
gebracht hatte. Emily lächelte ihr kurz zu, und da sie sich schon umgedreht
hatte, musterte sie die wenigen Studierenden, die nicht völlig hinter ihren
Rechnern verschwunden waren. Eine andere Frau, vermutlich etwa in ihrem Alter,
fiel ihr durch ihre kerzengerade Körperhaltung auf. Sie trug einen dicken
blonden Zopf, der ihr bis auf die Brust baumelte, und zwirbelte
gedankenverloren einen Bleistift in beachtlicher Geschwindigkeit zwischen den
Fingern. Ganz hinten saßen noch einige Pensionäre, die sich jetzt vermutlich
noch ein bisschen Bildung gönnten nach einem harten Leben voller Arbeit. Einer
zog missbilligend die Augenbrauen hoch, als er sah, dass sie ihn anstarrte, und
sie wandte sich schnell wieder um.
    Frau Engels war inzwischen am Ende der Liste angelangt,
schaltete den Beamer wieder aus und begab sich hinter ein kleines Stehpult.
„Wer von Ihnen kann mir sagen, womit sich die Soziologie beschäftigt?“
Betretenes Schweigen. Vermutlich hatte keiner der Studierenden damit gerechnet,
eine Frage gestellt zu bekommen. Das Schweigen dauerte an. Schließlich hob
Emily die Hand und antwortete: „Mit den Menschen und ihren Problemen.“ Einige
lachten, vermutlich weil ihre Antwort so schlicht war, doch Frau Engels nickte.
„Ganz richtig, aber das tun andere Disziplinen auch, wie die Psychologie oder
die Medizin. Was ist denn das Besondere oder das Spezifische der Soziologie?“
Diesmal antwortete einer der Pensionäre aus der letzten Reihe. Sie sah, wie
manche der Studierenden sich fragende Blicke zuwarfen. Emily freute sich, denn
sie hatte eher erwartet, dass sie nun mit Fremdwörtern aller Art zugeschüttet
werden würde, und sich nach ihren ersten Lektüreerfahrungen schon darauf
eingestellt, nicht allzu viel zu verstehen.
    Das hier schien anders zu
werden. Ganz erleichtert und ein wenig euphorisch, fast wie beschwipst, lehnte
sie sich zurück, nicht ohne das Schreibzeug der hinter ihr sitzende
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