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Ein diplomatischer Zwischenfall

Ein diplomatischer Zwischenfall

Titel: Ein diplomatischer Zwischenfall
Autoren: Agatha Christie
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sehr unwahrscheinlich ist, dass ein Außenstehender die Tat begangen hat, wo stehen wir da eigentlich?«
    »Das möchte der Inspektor auch gern wissen«, bemerkte Raymond West.
    »Man betrachtet eine Sache oft von der falschen Seite. Wenn sich nun am Alibi dieser Personen nichts ändern lässt, könnten wir dann nicht vielleicht die Zeit des Mordes verlegen?«
    »Du meinst, dass weder die Kaminuhr noch meine Armbanduhr richtig gingen?«, fragte Lou.
    »Nein, liebes Kind, das habe ich ganz und gar nicht gemeint. Ich wollte damit sagen, dass der Mord nicht um die Zeit erfolgte, als du es annahmst.«
    »Aber ich habe es doch mit eigenen Augen gesehen«, rief Lou.
    »Nun, liebes Kind, ich habe mir schon überlegt, ob es nicht beabsichtigt war, dass du es sehen solltest. Ich habe mich gefragt, ob das nicht der eigentliche Grund war, warum du für diese Arbeit engagiert worden bist.«
    »Was soll das heißen, Tante Jane? Ich verstehe dich nicht.«
    »Nun, das Ganze erscheint etwas merkwürdig. Miss Greenshaw gab bekanntlich nicht gern Geld aus, und doch engagierte sie dich und ging bereitwillig auf deine Gehaltsforderungen ein. Es kommt mir so vor, als habe man beabsichtigt, dass du dich da oben im ersten Stock in der Bibliothek aufhalten und aus dem Fenster sehen solltest, damit du – eine Außenstehende von untadeliger Zuverlässigkeit – bezeugen konntest, dass der Mord zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Platz verübt wurde.«
    »Aber du willst doch wohl nicht behaupten«, meinte Lou ungläubig, »dass Miss Greenshaw die Absicht hatte, sich ermorden zu lassen?«
    »Ich will damit nur sagen, liebes Kind, dass du Miss Greenshaw eigentlich gar nicht gekannt hast. Es besteht durchaus kein Grund, warum die Miss Greenshaw, die du gesehen hast, als du dich vorstelltest, dieselbe Miss Greenshaw sein sollte, mit der Raymond sich ein paar Tage vorher unterhalten hat, nicht wahr? Jaja, ich weiß«, fuhr sie rasch fort, um Lous Einwand zuvorzukommen, »sie trug das altmodische Kattunkleid und den seltsamen Strohhut und hatte wirres Haar. Sie entsprach genau der Beschreibung, die Raymond uns am letzten Wochenende gab. Aber diese beiden Frauen waren sich in Alter, Größe und Figur ziemlich ähnlich. Ich meine die Haushälterin und Miss Greenshaw.«
    »Aber die Haushälterin ist dick!«, protestierte Lou. »Sie hat einen gewaltigen Busen.«
    Miss Marple räusperte sich.
    »Aber, mein liebes Kind, heutzutage kann man doch sicherlich… Ich meine, ich habe – hm – sie schon selbst schamlos in Schaufenstern ausgestellt gesehen. Es ist für jede Frau sehr leicht, einen – eine Büste in jeder Größe und Ausdehnung zu haben.«
    »Worauf willst du eigentlich hinaus?«, erkundigte sich Raymond.
    »Nun, in den zwei oder drei Tagen, als Lou dort arbeitete, hätte meines Erachtens eine Frau gut beide Rollen spielen können. Du hast ja selbst gesagt, Lou, dass du die Haushälterin kaum gesehen hast, abgesehen von dem kurzen Augenblick, wenn sie dir vormittags das Tablett mit dem Kaffee brachte. Auf der Bühne sieht man ja auch diese geschickten Verwandlungskünstler, die nach wenigen Minuten immer wieder in einer anderen Rolle auftreten. Ich bin überzeugt, dass der Wechsel sich sehr rasch bewerkstelligen ließ. Diese Pompadourfrisur war sicher eine Perücke, die man schnell abnehmen und aufstülpen konnte.«
    »Tante Jane! Willst du etwa sagen, dass Miss Greenshaw schon tot war, bevor ich mit meiner Arbeit dort begann?«
    »Nicht tot. Aber unter der Einwirkung von Betäubungsmitteln, möchte ich behaupten. Für eine gewissenlose Frau wie die Haushälterin eine Kleinigkeit. Dann engagierte sie dich und trug dir auf, den Neffen anzuläuten und ihn für eine bestimmte Zeit zum Lunch einzuladen. Die einzige Person, die gewusst hätte, dass diese Miss Greenshaw nicht Miss Greenshaw war, wäre Alfred gewesen. Und wie du dich vielleicht noch entsinnen kannst, waren die ersten beiden Tage, an denen du dort gearbeitet hast, regnerisch, und Miss Greenshaw blieb im Hause. Wegen seiner Fehde mit der Haushälterin ließ Alfred sich nie im Hause blicken. Und am letzten Morgen war Alfred in der Einfahrt, während Miss Greenshaw im Steingarten arbeitete – diesen Steingarten möchte ich mir eigentlich gern ansehen.«
    »Willst du damit sagen, dass Mrs Cresswell die Täterin war?«
    »Ich glaube, die Sache verhält sich folgendermaßen. Nachdem Mrs Cresswell dir den Kaffee gebracht hatte, schloss sie dich beim Verlassen des Zimmers ein
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