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Ein deutscher Wandersommer

Ein deutscher Wandersommer

Titel: Ein deutscher Wandersommer
Autoren: Andreas Kieling
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Hilfe zu kommen. Die tat in dem Moment das einzig Richtige und suchte ihr Heil in der Flucht. Der Nandu lies es damit aber nicht bewenden und raste ihr mit unglaublichem Tempo – wie ich jetzt weiß, können Nandus bis zu sechzig Stundenkilometer schnell werden – hinterher. Die beiden waren bereits über hundert Meter von den Küken entfernt, doch das interessierte den Nandu nicht. Wenige Sekunden später hatte der Nandu Cleo eingeholt und katapultierte sie ein weiteres Mal in die Luft. Cleo rappelte sich auf und flüchtete weiter. Mittlerweile hatte ich eine Wahnsinnsangst um sie. Dummerweise behinderte mich der Rucksack, den ich gar nicht so schnell abwerfen konnte, beim Laufen.
    »Cleo, komm! Hier!«, schrie ich immer wieder, während ich so gut es ging voranstürmte, doch sie war so in Panik, dass sie mich nicht hörte.
    Endlich bemerkte sie mich, schlug einen Haken und hetzte auf mich zu, der Nandu hinterher. Fast gleichzeitig kamen die beiden bei mir an. Cleo brachte sich hinter mir in Sicherheit und verbellte den Nandu, richtig giftig und böse. Und was machte der? Der führte vor mir einen Tanz auf, lief drei Meter nach rechts, drei nach links, sprang dann plötzlich mit beiden Beinen in die Luft und schlug nach mir, zerriss mir dabei zum Glück nur die Hose. Mit seiner scharfen Kralle hätte er mir ohne Weiteres das Bein bis zur Schlagader aufreißen können. Ich hielt die Kamera schützend vor mich und musste dabei, wie sich später herausstellte, mehrmals den Auslöser gedrückt haben. Wieder tänzelte der Nandu vor mir hin und her, während Cleo hinter mir wie eine Wahnsinnige bellte. Ich machte vorsichtig einen Schritt nach hinten, und sofort griff der Nandu wieder an. Es war eine schier ausweglose Situation. Sobald ich mich bewegte, selbst rückwärts, attackierte der Vogel. Was mache ich jetzt nur? Ich hatte ja gesehen, was vorher mit Cleo passiert war, und ich sah die Gefahr, die mir drohte. Der bringt mich noch um! Beim nächsten Mal, so überlegte ich, versuche ich ihn am Hals zu packen und schleudere ihn so lange durch die Luft, bis er keinen Mucksmehr macht. So idiotisch das klingt, aber das war in dem Moment wirklich mein Gedanke. Nach zwei, drei weiteren Angriffen, denen ich knapp ausweichen konnte, ließ das Tier endlich von mir ab und eilte im Laufschritt zurück zu seinen Küken.
    Aufatmend hockte ich mich hin und untersuchte erst einmal Cleo auf Verletzungen. Die einzige Blessur, die sie davongetragen hatte, war eine Riesenbeule am Hals, die sich aber nicht weiter vergrößerte. Dann tastete ich mich selbst ab; bis auf die zerrissene Hose war alles heil. Wir hatten unglaubliches Glück gehabt.
    Nur im Unterbewusstsein hatte ich wahrgenommen, dass während des Angriffs zwei Leute von der Straße irgendetwas zu mir herüberbrüllten. Ich sammelte ein paar Nandufedern auf und ging zu den beiden Männern, die da mit Stativ und Spektiv standen und wild gestikulierten. Zwei Hobby-Ornithologen. Ob ich denn nicht wüsste, wie gefährlich diese Tiere seien, empfingen sie mich. Und dann erzählten sie, dass es hier bereits die schlimmsten Unfälle gegeben habe, dass die Tierpfleger in Zoos, die für Nandus zuständig sind, sogar eine Spezialausbildung machen müssten, weil die Vögel selbst in Tierparks schon Menschen getötet hätten, und so weiter und so fort. Die beiden haben mich richtig heruntergeputzt.
    Cleo und ich standen da, ziemlich bedröppelt. Ich konnte zu meiner Entschuldigung nur vorbringen, dass ich von all dem nichts gewusst und die Gefahr unterschätzt hatte. Sonst hätte ich zu Anfang doch nicht noch Fotos geschossen, sondern Cleo sofort zurückgepfiffen!
    Die beiden Ornithologen fanden es nichtsdestotrotz ganz toll, dass es da Nandus gab.
    »Na ja, Cleo und ich finden das gar nicht toll«, meinte ich daraufhin.
    Mal abgesehen von dem gewaltigen Schrecken, den sie – beziehungsweise der eine Berserker – Cleo und mir eingejagt hatten, und der Gefahr, die sie für andere Wanderer darstellen, die vielleicht unabsichtlich einem Gelege oder Küken zu nahe kommen, finde ich es auch ökologisch bedenklich. Und mit dieser Meinung stehe ich nicht allein. Naturschützer sehen die Exoten aus Südamerika unter anderem als Nahrungskonkurrenten für einheimische Großvögel, zum Beispiel den Kranich, als Bedrohung für einige seltene Insektenarten, die sie auf ihrer Speisekarte haben – wobei der Nandu grundsätzlich ein Allesfresser ist –, und sogar für Nutzvieh: Angeblich sind
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