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Ein altes Haus am Hudson River

Ein altes Haus am Hudson River

Titel: Ein altes Haus am Hudson River
Autoren: Edith Wharton
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wenn wir dem Glück niemals mehr so nahekommen wie mit einem solchen Wunsch.»Sie ließ ihren sanften, humorvollen Blick zu ihrem Enkel wandern.«Ich würde sagen, Vanny muss nach Osten reisen.»
    In diesem Augenblick fiel Mrs Weston die Postkarte ihrer Cousine Lucilla Tracy ein.«Die Familie von Lorburn Tracy wohnt nicht weit weg von New York», sagte sie,«etwas den Hudson hinauf. Und für Vance gäbe es dort immerhin gute Landluft und gute Milch. Vielleicht nimmt ihn Lucilla ganz gern für ein paar Wochen als zahlenden Gast auf. Nach dem, was sie letztes Mal geschrieben hat, geht es ihnen nicht gerade glänzend. Seit Lorburns Tod haben sie und die Kinder, glaube ich, alle Mühe, mit dem Geld auszukommen. Na, ich werde auf jeden Fall mal diese Karte beantworten …»
    Vance sagte nichts; der Vorschlag kam überraschend. Er wusste, dass Paul’s Landing, wo die Cousine seiner Mutter lebte, nur eineinhalb Bahnstunden von New York entfernt lag, und sein Herz begann aufgeregt zu klopfen, obwohl er sich weiterhin gleichgültig gab.
    Lorin Weston hingegen blieb nicht gleichgültig. Er begriff den Vorschlag als unverhoffte Gelegenheit, seinem Sohn entgegenzukommen, ohne allzu viel Geld auszugeben – ein wichtiger Umstand angesichts der hohen Kosten von Vance’ Krankheit und der Komplikationen und Geldnöte, die ihm wahrscheinlich daraus erwuchsen, dass er die leidige Frage nach der Wasserversorgung von Crampton wieder aufgeworfen hatte.
    « Wir könnten doch Lucilla gleich jetzt anrufen?», schlug er vor und erhob sich mit der Eile eines Mannes, der rasche Lösungen gewohnt ist. Mrs Weston hatte nichts dagegen, und Mrs Scrimser nickte zustimmend.«Prima, Lorin. Lucilla wird sich bestimmt sehr freuen. Ihr Junge dürfte etwa in Vannys Alter sein, nicht wahr, Marcia?»Das vermutete Marcia auch, und Mutter und Tochter verloren sich in Erinnerungen an die Jugendzeit von Lucilla Tracy, die sie seit ihrem Besuch in Advance vor Jahren, als Vance noch ein Baby war, nicht mehr gesehen hatten. Die Tracys waren damals wohlhabend, das junge Paar befand sich auf der Hochzeitsreise zum Grand Canyon und legte unterwegs eine Pause ein, um die im Westen lebenden Verwandten der Braut zu besuchen. Mrs Scrimser und Mrs Weston erinnerten sich, dass Lucilla sehr hübsch gewesen war und schicke New Yorker Kleider getragen hatte; Mr Tracys Vater besaß wohl so etwas wie eine große Fabrik am Hudson, und er selbst war Redakteur bei der führenden Zeitung in Paul’s Landing, wo es immer Tracys und Lorburns gegeben hatte, schon vor der Revolution, wie er ihnen erzählt hatte.
    « Du liebe Zeit, wenn man so etwas hört, das führt einen ja geradewegs zurück in uralte Zeiten!»Großmama errötete erinnerungsselig, Mrs Weston dagegen erschauerte ein wenig angesichts solcher Rückblicke in unendliche Fernen. Sie stellte sich die Menschen lieber in engem Austausch mit den anderen und erfolgreich vor, so wie sie selbst lebte, umgeben von einer blühenden Gegenwart und sicher abgeschirmt vor dem eisigen Luftzug einer unbekannten Vergangenheit.«Ich finde, wenn die Familie so weit zurückreicht, hilft das den Kindern nicht unbedingt, vorwärts zu kommen», sagte sie sentenziös, und in diesem Augenblick kehrte ihr Mann mit einer Mitteilung wieder, die ihre schlimmsten Ahnungen zu bestätigen schien: Die Tracys hatten schlichtweg kein Telefon.
    Kein Telefon! So etwas war den Westons noch nie untergekommen. Mrs Weston fand erst einmal, das sei unmöglich, hier müsse ein Irrtum vorliegen, der Auskunft unterliefen immer wieder Fehler; ob Lorin gesagt habe, dass es sich um Mrs Lorburn Tracy handle, in Paul’s Landing, New York? Ob er auch richtig verstanden habe? Es könne einfach nicht sein, wiederholte sie, begann aber zu überlegen, dass, wenn doch, die Tracys sehr« sonderbar»sein müssten und sie ihnen dann keines ihrer Kinder anvertrauen wolle, am wenigsten Vance, nach einer solchen Krankheit. Am besten sei es, den Gedanken ganz aufzugeben.
    Mrs Scrimser hingegen war älter, und ihre Erinnerung reichte in Zeiten zurück, wo selbst im aufgeklärten Westen Menschen fernab von aller Zivilisation lebten oder einfach zu arm waren …
    « Aber ich möchte nicht, dass Vance an einen Ort fernab von aller Zivilisation geht. Angenommen, er wird krank, wie wollen sie dann einen Arzt rufen?»
    « Wenn es daran liegt, dass sie zu wenig Geld haben», fiel ihr Mann ihr ins Wort,«werden sie in Vance als zahlendem Gast ein Geschenk des Himmels sehen, und wie ich
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