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Ein altes Haus am Hudson River

Ein altes Haus am Hudson River

Titel: Ein altes Haus am Hudson River
Autoren: Edith Wharton
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fallen, und im Lauf des Essens kam noch ein dünnes, blondes Mädchen in einer hellblauen Bluse und einem sehr kurzen Rock ins Zimmer spaziert, gab dem Neuankömmling verlegen die Hand und setzte sich auf den letzten freien Platz.
    « Laura Lou kommt immer zu spät, nicht wahr?», sagte Mrs Tracy in einem Tonfall heiterer Resignation.«Deine Schwestern erscheinen sicher auch nicht immer pünktlich zum Essen, nicht wahr, Vance?»
    Vance lachte und sagte, nein, sie brächten seine Mutter manchmal auf die Palme, und Laura Lou lachte auch, aber ohne ihn anzuschauen. Dennoch weckte der kurze Anblick ihrer verhangenen grauen Augen mit den dichten dunklen Wimpern in ihm die Sehnsucht nach einer anderen. Ihr Gesicht war freilich nicht hübsch, zu verhärmt und dünn wie das ihres Bruders, mit ziemlich hohen Wangenknochen, was Vance hässlich fand, und aschblondem, wirr in die Stirn hängendem Haar. Sie war bestimmt nicht älter als fünfzehn, vermutete er, ein für ihn völlig uninteressantes Alter, und da sie nicht am Gespräch teilnahm und den Kopf einfältig über ihrem Teller mit kaltem Fleisch und Kartoffeln hängen ließ (was sie beides kaum anrührte), beachtete er sie bald nicht mehr. Er hatte jenen Grad von Müdigkeit erreicht, wo alles ringsum gleichzeitig nervenaufpeitschend und quälend ist, und trotz seiner freundlichen Gefühle für die Gastgeber verlangte es ihn verzweifelt nach Alleinsein und Schlaf.
    Doch am Ende gelang es ihm nicht einzuschlafen. Es lag nicht an dem muffigen, abgestandenen Geruch in seinem komischen kleinen Zimmer, auch nicht am Erstaunen darüber, dass er nach seiner langen, kräftezehrenden Reise kein heißes Bad nehmen konnte (die Wasserversorgung der Tracys war nämlich ebenso primitiv wie ihre Beleuchtung und ihr Fortbewegungsmittel). Ihn hielt etwas wach, das stärker war als die unerschöpfliche Fähigkeit der Jugend, sich trotz Sorge und Unbequemlichkeit zu erholen und durchzuschlafen – eine brennende innere Erregung, die von einer unbestimmten Enttäuschung überschattet, aber nicht übermannt wurde.
    Vance wusste nicht genau, was er vom Osten der Staaten erwartet hatte, abgesehen von einer allgemeinen Überfülle all dessen, was er zu bewundern gelernt hatte: größere Häuser, breitere Straßen, glänzenderen Lack, mehr Autos, Telefone und Bäder, als Euphoria besaß und jemals zu besitzen erträumen konnte. Nun befand er sich in einer Stadt in der Nähe von New York und im Haus von Menschen seiner eigenen Gesellschaftsschicht – und war in einem Klapperkasten von Einspänner hierher transportiert worden, das Haus war fast so schäbig wie das von Harrison Delaney, es hatte keinerlei neuzeitlichen Komfort, und seine freundlichen Bewohner waren an diesen Mangel offenbar so sehr gewöhnt, dass sie sich nicht einmal dafür entschuldigten. Vance kannte Armut nur vom Hörensagen. Die Menschen, unter denen er aufgewachsen war, waren zwar nicht alle so wohlhabend wie seine Familie, aber es schien ihnen an nichts zu fehlen – oder besser gesagt: Das, was ihnen fehlte, was sie vermissten und weswegen sie sich abstrampelten, waren Luxusgüter, nach denen die Tracys offensichtlich gar nicht trachteten. Vermutlich kam das von jenem geheimnisvollen Mangel an Lebenskraft, der ihm an Mrs Tracy und ihrem Sohn aufgefallen war; vielleicht sähe es anders aus, wenn Mr Tracy nicht schon vor Jahren gestorben wäre. Bestimmt wären sie nicht ewig am selben Ort und im selben Haus geblieben – ein deutlicher Beweis für das Fehlen jeglicher Initiative, unfasslich für jedermann in Euphoria. Nein, wenn Mr Tracy noch lebte, hätte er für Upton längst einen besseren Arbeitsplatz gesucht (in Euphoria wurden die Gemüsegärtnereien von Polen und Italienern betrieben), er selbst hätte Auftrieb erhalten und wäre an einen rührigen Ort gezogen, er hätte etwas unternommen, um seiner Familie einen Lebensstandard zu bieten, wo elektrisches Licht, heißes Wasser, Telefon, Radio und ein Ford in einer Betongarage keine Privilegien mehr sind, sondern Notwendigkeiten.
    Nicht, dass Vance ein«Weichling»gewesen wäre; diesen Vorwurf hätte er empört zurückgewiesen. Bei Ferienzeltlagern tief im Wald hatte er das raue Leben in freier Natur kennen- und leidenschaftlich lieben gelernt. Als Amerika in den Krieg eintrat, war ihm Euphoria, getreu seinem Slogan«Me for the Front Row» 14 , hingebungsvoll gefolgt, und der fünfzehnjährige Vance hatte wie alle anderen Jungen exerziert, gebrüllt und Wache geschoben.
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