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Dunkler Grund

Dunkler Grund

Titel: Dunkler Grund
Autoren: Anne Perry
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der Intelligenz und der Entschlossenheit, die aus Oonaghs Gesicht sprachen, schien sie Hester keine Frau zu sein, die ihre Energie gerne an das Lösen von Problemen verschwendete, die nicht im geringsten von Bedeutung waren, heute nicht und schon gar nicht im Verlauf eines ganzen Lebens. War es vielleicht Neid, der aus diesem seltsamen Unterton in ihrer Stimme sprach?
    »Sie haben ein bemerkenswertes Verständnis«, erwiderte sie laut und hielt Oonaghs festem Blick stand. »So gut hab’ ich es bislang nicht einmal für mich selber in Worte fassen können. Ich muß zugeben, daß die Pflicht zum Gehorsam mich manchmal fast erdrückt. Ich war daran gewöhnt, auf eigene Faust zu handeln, schon deshalb, weil es niemanden gab, den ich hätte fragen können, und die Dringlichkeit der Situation keinen Aufschub duldete.«
    Deirdra beobachtete sie aufmerksam; ihr Gesicht spiegelte lebhaftes Interesse wider, den Tee hatte sie längst vergessen.
    Oonagh lächelte. Die Antwort schien ihr gefallen zu haben.
    »Sie müssen sehr viel Elend gesehen haben und schrecklich viel Schmerz«, bemerkte sie. »Sicher, im Sanitätsdienst wird man immer mit dem Tod konfrontiert sein, aber kein Krankenhaus ist so entsetzlich wie ein Schlachtfeld. Das müßte doch ein Trost für Sie sein. Wird man unempfindlich, bei soviel Toten um einen herum?«
    Hester dachte einen Moment nach, bevor sie antwortete.
    »Nicht gerade unempfindlich«, sagte sie nachdenklich. »Aber man lernt, seine Gefühle zu beherrschen und sie schließlich zu ignorieren. Würde man sich ihnen hingeben, dann wäre man bald nur noch ein Häufchen Elend und keine Hilfe mehr für die, die noch am Leben sind. Mitleid ist das Natürlichste von der Welt, doch eine Krankenschwester muß so viele praktische Dinge tun, da behindert es nur. Mit Tränen in den Augen kann man weder Geschosse entfernen noch gebrochene Beine schienen.«
    Zuversicht sprach aus Oonaghs Blick, als wäre soeben ein heikles Problem gelöst worden. Sie erhob sich und strich ihren Rock glatt. »Ich glaube, Sie sind genau die richtige Frau, um Mutter nach London zu begleiten. Sie wird Ihre Gesellschaft ausgesprochen anregend finden, und ich habe volles Vertrauen, daß Sie sich zu ihrer absoluten Zufriedenheit um sie kümmern werden. Danke, daß Sie so offen zu mir waren, Miss Latterly. Sie haben alle meine Bedenken zerstreut.« Sie warf einen Blick auf die Taschenuhr, die sie an einer Kette um den Hals hängen hatte. »Vielleicht möchten Sie die Zeit bis zum Lunch in der Bibliothek verbringen? Dort ist es warm, und Sie sind ungestört, wenn Sie lesen wollen.« Sie sah Deirdra an.
    »Ach, ja.« Deirdra erhob sich ebenfalls. »Ich glaube, ich sollte jetzt mit Mrs. Lafferty die Rechnungen durchsehen.«
    »Das hab’ ich bereits erledigt«, sagte Oonagh leise. »Aber ich habe mit Cook noch nicht die Speisenfolge für morgen besprochen. Das könntest du mir abnehmen.«
    Falls Deirdra die Auffassung ihrer Schwägerin über die Leitung des Haushalts mißbilligte, ließ sie es sich nicht anmerken.
    »Oh, ich danke dir. Ich kann Zahlen nicht ausstehen: Sie sehen alle gleich aus und öden mich an. Ja, natürlich werde ich mit Cook reden.« Sie lächelte Hester noch einmal zu und entschuldigte sich.
    »Ich würde sehr gerne etwas lesen«, sagte Hester.
    Es war nicht unbedingt eine Aufforderung gewesen, aber da sie nichts Besseres zu tun hatte, ließ sie sich in die schöne Bibliothek führen; vor drei Wänden standen in raumhohen Regalen Bücher, viele von ihnen in Leder gebunden und mit goldgeprägten Rücken. Interessiert stellte sie fest, daß ein paar der schönsten, aber auch viele der gewöhnlichen, in Leinen gebundenen Bücher bei Farraline & Co. gedruckt worden waren. Sie entdeckte viele bekannte Titel, sowohl Sachliteratur als auch Belletristik, von zeitgenössischen und auch älteren Autoren.
    Sie wählte einen Band mit Gedichten aus, machte es sich in einem von ungefähr einem halben Dutzend Ohrensesseln bequem und schlug das Buch auf. Es war fast vollkommen still im Raum. Die schwere Tür schluckte alle Geräusche im Haus, nur das Knistern des Feuers im Kamin war zu hören, und hin und wieder trieb der Wind ein trockenes Blatt gegen das Fenster.
    Sie verlor jegliches Zeitgefühl, und als plötzlich eine junge Frau vor ihr stand, erschrak sie. Sie hatte die Tür nicht gehört.
    »Tut mir leid, ich wollte Sie nicht erschrecken«, entschuldigte sich die Frau. Sie war sehr schlank und hochgewachsen, aber ihre Gestalt
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