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Dunkle Häfen - Band 2

Dunkle Häfen - Band 2

Titel: Dunkle Häfen - Band 2
Autoren: Elin Hirvi
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hast dich überanstrengt!" , meinte Charlotte tadelnd.
    Sie bestand darauf, dass Ramis ruhig la g und beorderte ein Kissen her, auf das sie Ramis Kopf bettete. Nach einer Weile kam Edward mit der Alten zurück. Sie ging umständlich neben Ramis in die Knie und reichte ihr ein kleines Heft. Es hatte einen blauen Leineneinband und zierliche goldene Blumenmotive. Ramis schlug es auf. Die Schrift verschwamm vor ihren alten Augen, trotzdem erkannte sie es.
    "Von meinem Vater? Woher hast du es?"
    "Ich fand es in seinem Zimmer. Er war noch sehr jung, als er es geschrieben hat, fast noch ein Kind. Lange bevor er deine Mutter mitbrachte. Ich kann nicht lesen und habe es stattdessen aufbewahrt."
    "Aber wer kann es mir vorlesen? Meine Augen wollen nicht mehr."
    William nahm es ihr aus der Hand.
    "Ich kann ein wenig Irisch, weil ich so viele irische Matrosen hatte. Mit den Jahren lernte ich ein wenig von dieser Sprache, genug, um es vorzulesen."
    Als er begann, verschwand für Ramis alles. Sie lauschte nur noch dem Klang der Stimme, di e die Worte ihres Vaters wiederbelebte. Er schrieb über alltägliche Dinge, über Streit mit seinen Geschwistern und auf wen er wütend war. Er schrieb von langen Ausritten und Reisen zu anderen Schlössern und Burgen. Aber vor allem schrieb er über seine Schwester. Er hatte auch einige Skizzen angefertigt, von einem jungen Mädchen, das im Gras saß und las oder ihn von einem Pferd herunter angrinste. Wenn sie sich gestritten hatten, war er sehr unglücklich. Und als er einmal ohne sie wegmusste, klagte er darüber, wie einsam es doch war. Aber er schrieb mit viel Witz und einer gewissen Selbstironie. Gegen Ende war ein Eintrag, der Ramis die Tränen in die Augen trieb.
    Heute habe ich den Ring meiner Schwester wiedergefunden. Sie hat ihn von irgendjemand em bekommen und behauptet, es sei eine alte Frau mit einem Buckel gewesen. Aber ich glaube ihr nicht. Alte Frauen mit Buckel, die herumlaufen, haben keine wertvollen Ringe. Und wertvoll ist er. Er hat einen tiefroten Rubin, der in der Sonne glitzert. Sie weinte vor Freude, als ich ihn ihr gab.
    "Mein geliebter Bruder! Du hast mich gerettet!"
    Glücklich fiel sie mir um den Hals und küsste mich. Ich wusste nicht, warum sie sich so aufregte, aber ich lachte mit ihr. Sie schenkte mir als Dank eine Schwanenfeder und eine Rose.
    "Die Schwäne bringen uns Glück, was?" , fragte sie.
    Ich machte einen Scherz und nahm ihre Geschenke entgegen. Dabei riss ich mir die Haut an einer Dorne auf und unversehens war Blut auf der weißen Feder. Ich steckte sie in meine Tasche, damit Aine sie nicht sah, denn sie glaubt an Omen und Zeichen. Stattdessen nahm ich sie an der Hand und lief mit ihr zum See, an unseren Lieblingsplatz. Sie erzählte mir, dass der Wind ihr immer Dinge zuflüstere. Und er habe ihr gesagt, dass ich sie einst verlassen würde. Ich widersprach energisch. Wie könnte ich sie auch verlassen? Ich liebe sie doch. Und keiner kann das Band zwischen uns trennen, denn wir sind eins, waren schon vor unserer Geburt eins.
    Irgendwann kam William zum Ende. Er sah sie an und Ramis erkannte an der leisen Trauer in seinem Blick, dass er wusste, dass der Abschied nahe war. Er war derjenige, der sich am wenigsten von ihr gelöst hatte, trotz oder gerade wegen ihrer Trennung und seinem Groll.
    Ich liebe dich , murmelten ihre Lippen lautlos.
    Ramis schloss die Augen und lauschte dem Wind, als hätte sie ihn noch nie gehört. Und tatsächlich, er wisperte Worte, erzählte von Dingen, die er gesehen hatte und die noch kommen würden. Das Gras unter ihr war grün und feucht. Sie spürte das Leben um sich herum und gleichzeitig das Vergangene, das Gestorbene. Auf eine seltsame Weise war alles noch da, mitten im Leben. Es senkte sich gleich dem Duft der Bäume über sie und machte sie zu einem Teil dieser Welt. Und nun wusste sie es auch wieder, die Erinnerung kehrte zurück, vollständig. Die große Liebe ihrer Eltern, die jede Mauer durchdrungen hatte, die sorglosen, sonnigen Tage im Garten und die Wärme des Kamins im Winter. Auch die Streitereien, das Gezänk der Dienstboten und Liannas Zorn, wenn man sie geschimpft hatte. Ramis wurde wieder vollständig, die Risse in ihrer Seele schlossen sich. Keine Leere mehr, keine Furcht. Sie hatte hier die Überreste der Katastrophe erwartet, die sich viele Meilen entfernt ereignet hatte, aber sie fand nur Frieden in diesem ewigen Kreislauf vor. Sie sah in den Himmel, der sich bewölkt hatte. Es würde heute noch
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