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Dunkle Ernte

Dunkle Ernte

Titel: Dunkle Ernte
Autoren: Simon Mockler
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genügte, und der Motor sprang stotternd an. Er lächelte. Auch eine schwierige Jugend hatte ihr Gutes. Manche Dinge verlernte man nie. Außerdem tat in dieser Situation jeder Gedanke an die Vergangenheit und vertraute Dinge gut. Er jagte den Motor hoch, riss knirschend die Gänge durch und beschleunigte in Richtung Ausfahrt. Als er mit schlitterndem Heck in die Hauptstraße einbog, sah er ein weißes Schild mit hellblauer Aufschrift: »Marcon Pharmaceuticals. Forschung und Entwicklung«. Eines stand fest, in einem Krankenhaus war er nicht gewesen.
    Er schaltete das Radio ein, um ein wenig Alltäglichkeit und Normalität zu spüren. Es dämmerte, und auf der Straße herrschte Feierabendverkehr. Um diese Zeit spielten die Radio- DJ s gern alte Rockklassiker, wie Queen oder Thin Lizzy. Normalerweise konnte er auf Dino-Rock gut verzichten, aber heute kamen ihm der harte Beat und die einfachen Akkorde gelegen. Die schmutzigen, schnörkellosen Headbanger-Riffs würden sein Hirn am besten auf Kurs halten.
    Er fuhr an einem Hinweisschild vorbei: Cambridge, dreißig Kilometer. Offenbar befand er sich auf einer der Umgehungsstraßen um die Stadt. Er hatte keine Ahnung, was er tun sollte, wenn er dort ankam. So, wie er war, konnte er schlecht auf dem Campus auftauchen, in einem gestohlenen Wagen, halb nackt und mit Robinson-Crusoe-Bart. Der Oberpförtner hatte ihn ohnehin auf dem Kieker. Es würde ihm mit Sicherheit größtes Vergnügen bereiten, ihm die Einfahrt zu verweigern.
    Aber einen Schlupfwinkel gab es: Amanda Marshall in der Jesus Lane. Amanda war Doktorandin und stand kurz vor dem Ende ihres klinischen Praktikums. Bis zu seinem Verschwinden waren sie ein paar Wochen lang lose zusammen gewesen. Eigentlich war sie gar nicht sein Typ. Sie war unabhängig, beängstigend klug und nahm kein Blatt vor den Mund. Aber im Bett war sie hemmungslos und sinnlich, und es faszinierte ihn, wie sie zwischen diesen beiden Seiten ihrer Persönlichkeit hin und her schaltete.
    Sie waren dreimal zusammen ausgegangen und hatten zwei Nächte miteinander verbracht. Da hatte es gut geklappt zwischen ihnen. Aber das war gewesen, bevor er einfach so verschwunden war, um dann etwa drei Wochen später mit nichts am Leib außer einem Bart und einem mehr als dürftigen Krankenhauskittel wieder bei ihr aufzutauchen.
    Er parkte den Nissan so nahe wie möglich am Haus. Es war halb sechs an einem späten Winternachmittag, und die Straße war fast menschenleer. Er spürte, wie sein Magen knurrte. Wie lange hatte er keine feste Nahrung mehr zu sich genommen? Er lehnte sich mit der Schulter gegen die Türklingel und wartete. Schritte tappten Stufen herunter, eine gedämpfte Stimme sagte: Komme gleich . Jack begann zu zittern.
    »Was ist denn …?« Amandas Mitbewohnerin öffnete. Ihre Stimme klang schrill, ihre Miene verriet Ablehnung. Sie wollte die Tür gleich wieder schließen, aber Jack schob sein Knie dazwischen. Er zog eine schmerzvolle Grimasse, als ihn die Kante traf.
    »Tara, ich bin es, Jack, Jack Hartman. Amandas Freund. Ist sie da?« Seine Stimme klang immer noch fremd in seinen Ohren. Wie die Stimme eines alten Mannes, asthmatisch und gequält.
    Tara blinzelte; sie war immer noch nicht bereit, die Tür für ihn zu öffnen, aber sie wirkte schon etwas entspannter. Offenbar hatte sie ihn durch seinen Bart hindurch erkannt.
    »Jack? Ach ja, ich erinnere mich.« Sie zog einen Schmollmund und neigte den Kopf zur Seite. »Bist du nicht der Typ, der wochenlang nicht angerufen hat?«
    Jack war zu schwach, um ihrem Sarkasmus Erklärungen entgegenzusetzen. »Kann ich bitte zu Amanda?«, bat er.
    »Ich fürchte nein. Sie hat Nachtschicht im Krankenhaus. Sie darf heute mal wieder die Idioten zusammenflicken, die freitagsabends vollgesoffen in die Notaufnahme getorkelt kommen. Apropos, was um alles in der Welt hast du da an?« Sie musterte ihn von oben bis unten. »Das ist hoffentlich nicht irgend so eine hirnlose Aktion, die ihr im Suff ausgeheckt habt, deine Kumpels und du.« Sie warf argwöhnische Blicke die Straße hinauf und hinunter, halb in der Erwartung, einen Haufen schwer alkoholisierter Mitstudenten von Jack in ähnlichem Aufzug zu entdecken. Jack nutzte ihren Positionswechsel, um sich an ihr vorbei in den Flur zu schieben. Sein Zittern wurde immer heftiger. Er lehnte sich schwer gegen einen Heizkörper. Tara musterte ihn jetzt genauer, registrierte den gehetzten Ausdruck in seinen Augen und dass er am ganzen Leib bebte. Endlich schien sie zu
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